Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Simone Müller

Über London und Neuseeland nach Eggiwil - Simone Müller


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      Enge Wohnverhältnisse gelten um die Jahrhundertwende als wichtige Ursache für die Ausbreitung der Tuberkulose in ärmeren Bevölkerungsschichten. Die Bakterien werden vor allem durch Tröpfcheninfektion übertragen. Wo viele Menschen auf wenig Raum zusammenleben, ist das Ansteckungsrisiko gross. Auch mangelhafte Ernährung ist ein Risikofaktor. Hunger hat Claire in Zwingen zwar nicht erlebt: «Wir hatten zu essen auf dem Tisch, und wir hatten immer genug.» Aber das Essen ist unausgewogen: «Im Sommer hatten wir frisches Gemüse aus dem Garten, im Winter Gemüse aus den Einmachgläsern im Keller. Dazu ein paar Kartoffeln, die gab es ja immer. Fleisch kaum, hie und da vielleicht ein bisschen Rindfleisch zum Sieden. Der Nachbar hatte Obstbäume im Garten, Zwetschgen und Äpfel. Was auf unserer Seite auf den Boden fiel, durften wir zusammenlesen.» Auf den abgeernteten Getreidefeldern sammeln die Kinder liegen gebliebene Ähren. Sie bringen die Ähren in die Mühle. Aus dem Mehl backt die Mutter Brot. Bis sie keine Kraft mehr hat zum Teigkneten. Weil die Tuberkulose sie zu sehr schwächt.

      Albert Bärfuss hatte Hühner und zwei Schweine gehalten. Nach seinem Tod kommen die Tiere weg. Nun gibt es auch keine Eier mehr, keine Hühnereier und keine Taubeneier. Die wirtschaftliche Situation der Familie wird noch schwieriger, das Einkommen des Vaters fehlt. Sophie Bärfuss erhält keine staatliche Unterstützung. Manchmal hilft sie im Bahnhofbuffet Zwingen aus – bei Banketten oder andern grossen Anlässen, die zusätzliches Personal erfordern. Als man ihr anzusehen beginnt, dass sie krank ist, verliert sie auch diesen Verdienst.

      Claire weiss fast nichts über den Krankheitsverlauf: «Die Mutter sagte nie, dass sie krank sei. Wir, die jüngsten Kinder, wussten eigentlich nichts davon. Sie war immer da, sie war einfach immer da für uns, ja.»

      Sophie und Anni, die beiden ältesten Schwestern, müssen dann für ein Einkommen sorgen. In der Seidenfabrik in Grellingen, einer Gemeinde im unteren Laufental, gibt es Arbeit. Anni ist noch schulpflichtig und bricht die Schule vorzeitig ab, um in der Fabrik zu arbeiten. Claire erinnert sich an die Aluminiumkesseli der Schwestern – sie nahmen darin ihr Mittagessen mit. Sie erinnert sich auch an das Seidenmäschchen: «Ein weisses kleines Mäschchen aus Seidenfaden. So schön!» Sophie und Anni bringen das Mäschchen nach Hause, weil die jüngeren Geschwister wissen wollen, was sie denn so machten den ganzen Tag. Den ganzen Tag in der Fabrik.

      Frühling 1920, die erste Klasse. Das Schulhaus steht im Dorf, der Weg entlang der Birs, an der grossen Papierfabrik vorbei, ist weit. Klara muss ihn alleine gehen. Paula lebt nicht zu Hause, und die älteren Schwestern haben andere Stundenpläne oder arbeiten bereits. Als die Fabrik erweitert und der Uferweg wegen der Bauarbeiten gesperrt wird, muss sie einen Umweg machen. Mittags kann sie jetzt nicht mehr nach Hause. Die Mutter packt den Zmittag ein: ein Stück Brot und einen Apfel. Im Winter kocht die Frau des Schulhausabwarts Suppe.

      Zu dem ersten Schuljahr gehören auch die Ziegen: «Eine Tante von uns wohnte nahe der Bahn, sie hatte Ziegen. Wenn die Cousine von der Schule nach Hause kam, musste sie mit den Ziegen gehen, die wollten ein wenig hinaus. Sie kam bei uns in der Nähe vorbei. Ich wartete mit Fanny und Sepp, bis sie mit den Ziegen kam, und dann gingen wir mit ihr. Manchmal brachte sie Äpfel oder Kartoffeln mit. Es gab so ein grosses Wiesenbord, dort machten wir ein Loch und ein Feuer und taten den Apfel oder die Kartoffeln hinein. Meistens Kartoffeln, warum? Die Äpfel hätte man einwickeln müssen, sie verbrennen sonst, und man hat nicht mehr viel davon. Die beiden Kleinen gingen dann heim, und ich musste mit der Cousine und den Ziegen nach Hause. Das Bäsli – also die Tante – machte mir immer eine grosse Kartoffel zwäg, sie füllte ein wenig Käse oder Eier oder so hinein und backte sie im Ofen, und ich musste das essen, bevor ich dann auch nach Hause ging. Dazu warme Ziegenmilch, in so einer grossen Kachel, wie man sie früher auf den Bauernhöfen hatte. Ich vertrug Kuhmilch nicht gut, deshalb musste ich immer diese Ziegenmilch trinken.

      Wenn es nicht gerade stark geregnet hat, war das jeden Tag so. Die Ziegen müssen halt hinaus, sonst beginnen sie zu stinken. Auch wenn man sie gut putzt und strählt, müssen sie richtig hinaus, an die Luft, sonst beginnen sie zu riechen, und das merkt man auch in der Milch. Sie geisselet dann.»

      Zu Beginn der 1920er-Jahre verschlechtert sich der Zustand von Sophie Bärfuss. Die Behörden drängen, sie müsse die jüngeren Kinder weggeben. Sie sollen einzeln in der Gemeinde untergebracht werden. Die Mutter wehrt sich: Wenigstens Seppli, den Jüngsten, will sie behalten. Und wenn die Mädchen schon weg müssen, dann alle zusammen an den gleichen Ort, in ein katholisches Kinderheim.

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      Paula lebt schon seit einiger Zeit im Kinderheim Mariazell in Sursee im Kanton Luzern. Sie war nur kurz nach Zwingen zurückgekommen, hatte bald wieder weg müssen: «Als sie in die Schule kam, sagte die Mutter, sie solle jetzt von Montreux nach Hause kommen. Sie musste ja noch richtig Deutsch lernen, sie sprach eigentlich besser Französisch. Aber es ging dann nicht so gut. Die Tante hatte zwei Mädchen, die waren viel älter als Päuli, und wo sie hingingen, ins Kino oder irgendwo etwas essen, nahmen sie Päuli mit. Sie kauften ihr auch Kleider und Schuhe, alles. Damals trug man noch so geringelte farbige Strümpfe und so Halbschüeli und Gott weiss was. Das bekam sie zu Hause halt nicht. Nicht dass sie dachte, sie sei mehr als wir, aber sie konnte sich einfach nicht mehr abgeben mit uns.»

      Auch Dora, Klara und Fanny kommen nun nach Mariazell.

      Sophie Bärfuss hätte die Töchter lieber in das Luzerner Kinderheim des «Seraphischen Liebeswerks», eines Kinderhilfswerks des Kapuzinerordens, gegeben. Im Kinderheim Wesemlin hat es aber nicht für alle Platz.

      Im Frühsommer 1921 kauft Sophie Bärfuss einen Ballen neuen, hellen Stoff. Sie näht daraus drei Kleider. Eins für Dora, eins für Klara und eins für Fanny. Jedes Kleid ist anders ausstaffiert. «Ich weiss noch, es war ein weisser Untergrund mit winzig kleinen Blümchen drin. Ein Kleid hatte vorne ein Knöpfchen zum Zumachen, ein anderes hinten. Wieder ein anderes hatte einen kleinen Gürtel. Meines hatte ein hellgrünes gehäkeltes Knöpfchen und ein Gürtelchen dazu. Das war das einzige neue Kleidchen, das ich je hatte. Und damit sind wir dann ins Heim.»

      In Zwingen waren die Geschwister meist dunkel angezogen. Die Kleider des Vaters waren aus dunklem Stoff. Hatte er ein Kleidungsstück ausgetragen, schnitt die Mutter es für das älteste Kind zu. Wenn diesem die Ärmel zu kurz geworden waren, passte sie es erneut an, für das nächst jüngere. Immer weiter hinunter bis zum jüngsten. Zu Sepp. Klara hat nie etwas anderes gekannt. Claire weiss fast nichts über die letzten beiden Jahre der Mutter – nur dass Sepp noch eine Weile bei ihr bleibt, bevor auch er ins Kinderheim kommt, nach Luzern ins Wesemlin; dass sie das Haus aufgeben und in eine kleine Wohnung im Dorf ziehen muss; dass dort Sophie, die Tochter, mit ihr lebt. Sophie, die Schwester: «Sie hatte auch Tuberkulose, das sah man. Sophie war sehr dünn und hatte keine Energie und nichts.» Weil die Kranken immer dünner wurden, nannte man die Tuberkulose früher auch Schwindsucht. Sophie Bärfuss-Hof stirbt am 4. November 1923 in Laufen. Nur Albert und seine Familie leben jetzt noch im Haus in Zwingen. Bis auch Albert stirbt. An Tuberkulose, wie Sophie, Anni und Lini. Wie später Dora. Wirksame Medikamente gegen die Krankheit gibt es noch nicht. Antibiotika werden erst ab Mitte der 1940er-Jahre gegen Tuberkulose eingesetzt. Sophie, Anni, Lini. Eine der drei Schwestern soll am Tag der Beerdigung einer der beiden andern gestorben sein, weiss Claire vom Hörensagen.

      Nach Alberts Tod ziehen Martha und die Kinder weg. Das Haus wird verkauft.

      Eggiwil, 6. Juni 2013

      Claire tastet mit einer Hand nach dem Stock, stützt sich mit der andern auf die Stuhllehne. Sie steht auf und geht zum Schrank, holt ihr kleines Nähkästchen. Früher hat sie oft genäht. Was von den vielen Utensilien noch geblieben ist, findet nun in dem kleinen grünen Kästchen Platz. Die Innenseite des Deckels ist mit Stoff ausgekleidet, drei kleine Mäschchen sind mit einer Nadel daran befestigt, zwei sind Abzeichen der englischen Krebshilfe. Das dritte ist von Anni.

      Anni hat das Mäschchen selbst gehäkelt. Anni, die so gut handarbeiten konnte. Anni, die auf einem Instrument spielen konnte, ohne es gelernt zu haben. Anni, die einen boyfriend hatte. «Anni konnte alles.»

      Nur Paula, Klara, Fanny und Sepp, die vier jüngsten der vierzehn Bärfuss-Kinder, werden älter als


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