Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Simone Müller
hatte.» Klara macht sich auf den Weg. In Sursee kommt sie an ein paar Läden vorbei. Neben einer Eingangstür hängt ein Bündel Bananen. Sie bleibt stehen. Schaut die Bananen an: «Das hat mich so gluschtet! Ich dachte, ich könnte das Geld ja brauchen, um die Bananen zu kaufen.» Sie ringt mit sich, ringt heftig. Sie denkt an die kranke Frau, und plötzlich kommt ihr die Mutter in den Sinn. Die auch krank gewesen war, der sie nicht hatte helfen, kein Medikament hatte bringen können. «Der Mutter hätte ich das nicht angetan.» Klaras Hand umklammert das Nastuch. Sie geht weiter. «Was hätte ich nachher gemacht, ohne Geld? Was hätte ich der Schwester gesagt? Ich habe es verloren? Das wäre eine Lüge gewesen, und gelogen habe ich nicht. Die Mutter sagte jeweils: ‹Es kommt immer aus, wenn du lügst.› Und das ist aber auch wahr. Wenn auch nicht gerade sogleich, dann später.» Sie hat die Entscheidung nie bereut: «Ich bin heute noch froh, dass ich dort vorbei gegangen bin.» Klara orientiert sich also in doppeltem Sinn an der Mutter. Sie erinnert sich, wie die Mutter gelitten hat, und kann sich mit Hilfe der Erinnerung in die kranke Frau einfühlen. Später wird sie das noch oft tun: sich in andere hineinversetzen, mitleiden. Und aus Mitleid Entscheidungen treffen – die manchmal auf ihre eigenen Kosten gehen. Sie identifiziert sich aber auch mit der mütterlichen Haltung: Sophie Bärfuss hat das Lügen verurteilt. Klara, Claire, trägt nicht nur den Schmerz mit sich, sie hat die Mutter auch verinnerlicht.
Eggiwil, 28. Februar 2013
Claire ist soeben in die Schweiz zurückgekehrt. Die Wände in der kleinen Einzimmerwohnung in Eggiwil sind noch leer. Nur über der Kommode hängt eine Fotografie: Sophie Bärfuss mit ihren acht jüngsten Kindern. Im Büchergestell auf der gegenüberliegenden Seite steht ein kleiner Rahmen mit einem Ausschnitt aus der gleichen Aufnahme – das Gesicht der Mutter.
«Warum Eggiwil?» Die Antwort ist immer dieselbe: «Das ist mein Heimatort.» Der Heimatort, vom Vater auf die Tochter übertragen.
Sie ist jetzt 99. Noch einmal erinnert sie sich an die Sicherheit, die der Vater vermittelt, die Geborgenheit, die sie bei der Mutter erlebt hat. Erinnert sich an jenes Fundament, das sie früh zurücklassen, früh in sich verankern musste. Sucht den Ort auf, der sie mit dem Vater verbindet. Hängt das Bild der Mutter an die Wand. Skizziert noch einmal Zwingen. In Eggiwil.
5 | FRAU BARFUSS |
Das Dossier trägt die Signatur PA 269/860. In der dünnen Kartonmappe liegt ein dicker Stapel loser Blätter. Unter anderem auch ein Schreiben der Gemeinde Zwingen an das Luzerner Kinderheim Wesemlin. Die Gemeinde ersucht um Aufnahme der drei Mädchen Dora, Klara und Fanny ins Kinderheim. Begründung: Die Mutter der Kinder sei «phlegmatisch» und «unfähig, den vaterlosen aber kinderreichen Haushalt zu führen». In einem andern Brief bittet auch das katholische Pfarramt Zwingen um Aufnahme der Schwestern – wegen «arger Vernachlässigung von Seiten der Mutter». Die Frau, heisst es weiter, sei «zu träge zum arbeiten».
Im November 1923 stirbt Sophie Bärfuss an Tuberkulose. In keinem der Schreiben, die Anfang der 1920er-Jahre von der Gemeinde oder vom Pfarramt Zwingen nach Luzern gehen, wird ihre Krankheit auch nur erwähnt. Aus vielen Dokumenten geht jedoch deutlich hervor, wie arm die Familie war. Die Staats- und Kirchenvertreter machen keinen Hehl daraus, dass die Armut der Familie ihrer Ansicht nach selbst verschuldet und Sophie Bärfuss – einmal wird sie auch als «arbeitsscheu» beschrieben – für die desolate Situation verantwortlich ist. Das Dossier Klara Barfuss wird im Staatsarchiv Luzern aufbewahrt.
Barfuss? In einigen amtlichen Dokumenten findet sich der Name Barfuss, in andern Bärfuss. Claire erinnert sich an die Unterschrift unter ihrem Schulzeugnis in Zwingen – «Barfuss» schrieb die Mutter. In ihrem Pass steht Bärfuss.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts übergaben viele Luzerner Kinderheime ihre Dossiers dem Staatsarchiv, so 1994 auch das Kinderheim Wesemlin. Insgesamt handelte es sich um mehrere Dutzend Laufmeter Akten. Die meisten Dossiers wurden vernichtet, nur wenige zur exemplarischen Dokumentation archiviert. Ein übliches Vorgehen – aus Platzgründen können nicht alle Akten aufbewahrt werden.
Wenig später wurden in vielen Kinderheimen westlicher Länder gravierende Missstände aufgedeckt. Jahrzehntelang und oft noch bis in die 1970er-Jahre waren Kinder in Heimen misshandelt und sexuell missbraucht worden, systematische Gewaltanwendung hatte vierlerorts zur Tagesordnung gehört. Die Vorwürfe betrafen auch etliche Institutionen im Kanton Luzern. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz zahlreiche Heime für Kinder und Jugendliche gegründet, die meistens von katholischen Ordensangehörigen geführt wurden – für den Staat eine kostengünstige Lösung. Besonders viele Kinderheime waren im katholischen Luzern entstanden.
Als in der breiten Öffentlichkeit der Ruf nach Aufarbeitung laut wurde, gab es viele Dossiers bereits nicht mehr. Oft haben auch die Institutionen selbst die Akten vernichtet. Von Paula Bärfuss zum Beispiel gibt es nur noch zwei Karteikarten. Von Sepp überhaupt nichts mehr. Dass die Dossiers von Dora, Klara und Fanny erhalten sind, ist also Zufall. Über die Zeit im Kinderheim Mariazell findet man darin allerdings fast nichts. Dokumentiert sind vor allem Briefwechsel zwischen den Behörden oder Arbeitgebern und den Kinderheimen Mariazell und Wesemlin. Die drei Bärfuss-Mädchen blieben im Wesemlin registriert, obwohl es dort 1921 keinen Platz für sie gegeben hatte. Das Heim organisierte die Unterbringung in Mariazell und war später, als die Mädchen – noch nicht volljährig – zu arbeiten begannen, erneut für sie zuständig.
In jedem der Dossiers hat es ein Formular, das Sophie Bärfuss, als die Mädchen ins Heim eintraten, unterschreiben musste. Auf dem Formular sind die Bedingungen für die Aufnahme ins Heim aufgelistet. Die Unterzeichnende verpflichtet sich, auf die Erziehung ihres Kindes keinen Einfluss mehr auszuüben sowie den brieflichen Kontakt möglichst einzuschränken. Sie verpflichtet sich auch, das Kind nur so oft zu besuchen, wie es «die betreffende Anstalt für angemessen erachtet». Der Mutter blieb nichts anderes übrig, als die Formulare zu unterzeichnen. Sie tat es ohne Vornamen, schrieb nur: Frau Barfuss.
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