Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Simone Müller

Über London und Neuseeland nach Eggiwil - Simone Müller


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auf der Lunge fest. Sie bekommt tägliche Ruhezeiten verordnet. Die Tuberkulose ist nie ausgebrochen.

      Zwingen, 22. August 2013

      Auf dem Friedhof reisst ein Mann Unkraut aus den Gehwegen. «Bärfuss?» Er zieht die Stirn hoch, schüttelt den Kopf. «Das gibt es hier nicht.» Er schweigt. Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf, Bewegung kommt in die Arme und Beine. «Ein Grab hat es noch gegeben, das war ein Bärfuss.» Er zeigt auf ein kleines Stück Gras, eingeklemmt zwischen dem Weg und dem frisch bepflanzten Nachbargrab. Es ist der einzige freie Platz in diesem Teil des Friedhofs. Neue Gräber werden auf der andern Seite angelegt. Den Arm noch immer ausgestreckt, setzt er sich in Richtung des Grasflecks in Bewegung. «Es ist nie jemand gekommen. Keiner hat mehr zu dem Grab geschaut, jahrelang nicht. Das war alles überwachsen. Und irgendwann hat man halt einmal gesagt: Jetzt ist fertig.» Das Grab sei dann vorzeitig aufgehoben worden. Seither ist der Platz leer. Er schaut noch einmal fragend. «Wer könnte das gewesen sein, dieser Bärfuss?» Ich weiss es nicht – enttäuscht wendet er sich ab. Reisst weiter Unkraut aus.

3 MARIAZELL

      Dora, Klara und Fanny tragen also die weissen Röckchen mit den winzig kleinen Blümchen, als die Mutter sie im Juni 1921 ins Kinderheim Mariazell bringt. Die Zugreise von Zwingen nach Sursee im Kanton Luzern ist weit, Sophie Bärfuss muss noch am gleichen Tag zurück. «Die Mutter sagte ‹Adieu›, und wir begannen zu weinen. Wir waren uns ja nicht gewohnt, dass sie weggeht.» Die Mutter sagt dann auch noch: «Wir sehen uns wieder. Ich werde euch besuchen kommen.» Klara wird sich zwei Jahre lang an diese Sätze klammern; auf ein Lebenszeichen, auf einen Besuch der Mutter hoffen.

      Ausser den Schwestern Dora, Paula und Fanny verliert Klara von einem Tag auf den andern alle Menschen, die ihr vertraut sind. Die Mutter und die Geschwister Albert, Sophie, Anni, Lina, Sepp. Die Tante mit den Ziegen und die Cousine, die Lehrerin, die Klassenkameradinnen. Nur Sepp wird sie später wiedersehen.

      Mit den Menschen verschwinden auch das Haus, der Wald, die Schule. Sie verschwinden für immer, Klara wird nie mehr nach Zwingen zurückkehren. Später wird sie diese Erfahrung wiederholen. Sie wird weggehen von Orten, an denen sie sich wohlfühlt, von Menschen, die sie gern hat. Wird immer wieder aufbrechen. Weitergehen.

      Das «Kinderasyl Mariazell», 1895 für Mädchen und Knaben aus armen Familien gegründet, wird von Baldegger Schwestern geführt. Die Klosterfrauen unterrichten auch an der internen Schule. Die Unterbringung im Heim kostet etwa 200 Franken pro Jahr und Kind. Da Sophie Bärfuss kein Geld hat, kommt die Gemeinde Zwingen dafür auf. Kleider erhalten die Heimkinder von reichen Familien, die weitergeben, was sie nicht mehr brauchen können. Schuhe? «Im Sommer waren wir einfach immer barfuss.» Auch draussen, auch wenn es regnet. Braune Striche markieren die Fusssohlenränder, dicke Hornhaut schützt vor spitzen Steinen. Bei den Eingangstüren stehen kleine Wassertröge. Die Kinder waschen sich den Schmutz von den Füssen, bevor sie ins Haus gehen.

      Der Heimalltag ist minutiös strukturiert. Religion, Schule und Arbeit bestimmen den Tagesablauf:

      «In den Schlafsälen stand ein Bett neben dem andern, und es gab auch eine Zelle mit Fenstern. Dort wachte eine Schwester. Sie kontrollierte, wer ins Bett gemacht hatte, und weckte die Kinder dann mitten in der Nacht auf.

      Wir mussten immer früh aufstehen, kurz nach fünf Uhr. Neben dem Schlafsaal hatte es ein Waschzimmer mit Trögen und Wasserhähnen. Waschen, kämmen, anziehen, das Bett machen und dann das Morgengebet. Zwischen den Betten gab es einen Gang mit einem grossen Heiligenbild, dort knieten wir uns hin und beteten. Wenn das alles fertig war, musste man in einer Reihe einstehen und in die Kapelle gehen. Ein Kaplan las die Messe. Es kamen immer Kaplane, die nicht ganz gesund waren. Warum? Das war halt eine leichte Stelle. Nach der Messe ging man wieder ins Haus zurück. Zum Zmorge gab es eine Hafersuppe mit kleinen Brotmöcklein. Das mochte ich gar nicht! Wenn das Brot in der Suppe war, wurde es so schliferig, und das hat mich so gruuset. Uuff! Aber wir bekamen diese Suppe jeden Morgen. Nach dem Essen wusch man ab und brachte den Speisesaal in Ordnung, dann hatte man Schule bis am Mittag. Nach dem Zmittag mussten die Buben im Garten etwas helfen oder im Haus den Dreck auffegen und die Mädchen Strümpfe stopfen und flicken und Gott weiss was alles. Jeden Tag Strümpfe stopfen! Die Buben hatten dann doch meistens noch eine schöne Pause vor der Schule, wir aber nicht. Nach der Nachmittagsschule Hausaufgaben machen und vielleicht noch einmal etwas helfen. Dann kam das Nachtessen und das Abendgebet in der Kapelle, und danach war es Zeit, ins Bett zu gehen. So um 20 Uhr war Nachtruhe.

      Am Samstag musste man putzen, die Gänge und die breiten Steintreppen in den Treppenhäusern, und in den Schulferien die grosse Hausputzete machen. Kissen, Decken, Matratzen hinausschleppen und dann klopfen. Damals hatte man ja noch keinen Staubsauger. Wir hatten eigentlich nie frei. Auch am Samstag und in den Ferien nicht.»

      Ein Tag spielt sich gleich ab wie der nächste, Zeit zum Spielen gibt es kaum. In den Stunden nach der Schule, die Klara früher im Wald oder mit den Ziegen verbracht hat, muss sie nun Haushaltsarbeiten machen und beten. Abwechslung bringt höchstens der Sonntag. Dann gehen die Kinder im nahen Kapuzinerkloster in die Kirche. Meistens zweimal, am Morgen in die Messe und am Nachmittag, um den Rosenkranz zu beten. Klara gefallen die Gesänge der Kapuziner. Die Mönche geben auch bereitwillig Auskunft, wenn die Kinder ein Anliegen haben: «Es gab eine Türe, dort konnte man klopfen und fragen gehen, wenn man etwas wissen wollte, was im Leben ist oder so. Die Mönche öffneten das Besuchszimmerchen und erklärten einem das dann.»

      Die Kinder leben abgeschottet von der Aussenwelt. Nicht einmal Sursee kennen sie: «Nur vor der Erstkommunion ging man zum Pfarrer in den Unterricht. Für diese halbe Stunde konnten wir ins Dorf, sonst nie. Die andern Kinder sind oft gekommen und haben gesagt: ‹Kommt doch mit uns spielen, seid doch nicht immer alleine›. Aber wir waren scheu. Wir getrauten uns nicht.» Nach der Erstkommunion fällt auch diese halbe Stunde weg.

      Klara ist in Mariazell ganz auf sich gestellt. Alleine mit der Sehnsucht, dem Schmerz. «Die Oberin sagte, sie wolle uns die Mutter ersetzen, aber das kann man ja nicht. Especially sie nicht. Sie war sehr streng. Man konnte überhaupt nicht reden mit ihr. Wir hatten alle mehr oder weniger Angst vor ihr.» Wenn Claire vom Kinderheim erzählt, verändert sich ihre Stimme. Sie wird nicht leiser, aber ausdruckslos und seltsam flach. Als ob sich die Gefühle und Empfindungen, für die es im Heim keinen Platz gibt, aus der Stimme zurückziehen würden – auch in der Erinnerung.

      Manchmal sagt Claire dann Sätze wie: «Ich bin eigentlich froh, haben sie uns streng gehalten im Heim. Sonst hätte man sich später nicht durchgebracht.» Oder: «Irgendwie ist man durchgekommen. Aber eine Kinderzeit hatten wir nicht.» Obwohl Klara gerne lernt, neugierig ist und oft mehr wissen möchte, als in den Schulstunden vermittelt wird, spricht Claire fast nie von der Schule. Wenn sie es tut, dann mit derselben tonlosen Stimme. Nur wenn sie sich an die Nüsse erinnert, die sie und die andern Kinder zu Weihnachten geschenkt bekommen, wird sie lebhaft. «Richtige Baumnüsse!» Sorgfältig, damit sie nicht kaputt gehen, knacken die Kinder die Schalen. Nehmen sie mit in die Schule, füllen Wasser ein, legen ein wenig Gras und ein Blümchen hinein. «Das war unser Blumenbouquet. Mehr hatten wir halt nicht.»

      Klara passt sich an. Sie ist still, in sich gekehrt. Vielleicht entgeht sie deshalb den Körperstrafen: «Mich hat nie jemand geschlagen.» Andere kommen weniger glimpflich davon: «Es sind schon viele geprügelt worden. Meistens Buben. Es gab so ein Zimmerchen mit einem kleinen Vorraum, ganz dunkel. In dem Vorraum hatte es einen Koffer, auf den mussten sie dann liegen und bekamen mit der Rute. Daran mag ich mich noch erinnern. Man wusste immer, wenn wieder einer drangekommen war. Die Schwestern haben auch ab und zu eine Ohrfeige gegeben, wenn es nicht funktionierte. Und in der Schule hat es manchmal mit dem Lineal getätscht.»

      Paula lernt noch eine andere Art der Bestrafung kennen. Sie macht in der Nacht oft ins Bett. Mittags nach der Schule, wenn die Mädchen Strümpfe stopfen, muss sie die nassen Leintücher holen und damit an den andern Kindern vorbei in die Waschküche. Sie muss die Leintücher in der Waschküche spülen. Alle wissen, weshalb Paula mit dem Bettzeug im Arm vorübergeht, wissen, weshalb Paula fast nie Strümpfe stopft am Mittag. Auch einer der Knaben muss regelmässig in die Waschküche.

      Klara


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