Über London und Neuseeland nach Eggiwil. Simone Müller

Über London und Neuseeland nach Eggiwil - Simone Müller


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Sie konnten ja nichts dafür, sie und der Bube. Die Klosterfrauen hätten ja auch etwas für die beiden machen können, damit es aufhört.» Paula wird später nie mehr über das Bettnässen reden. Wie sie überhaupt kaum noch über das Kinderheim sprechen wird. Auch Fanny nicht. Nur Claire erzählt. Erzählt von dem strengen Regime der Baldegger Schwestern. Sie erzählt auch von dem toten Mädchen im Kinderheim – heiter und gelöst, als schildere sie eine Landschaft von ein wenig surrealer Schönheit. Das irritiert vorerst, weil es um den Tod eines Kindes geht: «Das Mädchen hatte vier Schwestern, es war das Jüngste. Ich weiss nicht, was es hatte, aber es starb dann im Heim. Als es tot war, durften wir es schauen gehen. Es lag auf dem Bett, bereit gemacht für den Sarg. Also so schön, so schön hat es ausgesehen! So friedlich. Wie ein Engelchen.»

      Die Schilderung zeigt, wie sehr Klara gelitten hat im Kinderheim. Klara sieht im Gesicht des toten Mädchens, wonach sie sich sehnt: Zufriedenheit, so etwas wie Glück. Sie fühlt keinen Schmerz, keine Trauer, für einmal auch kein Mitleid. Sie weiss inzwischen, was «Tod» bedeutet, bringt die eigenen Erfahrungen mit dem Begriff in Verbindung. Sie kennt den Schmerz derjenigen, die zurückbleiben. Sieht dennoch nur diese Ruhe im Gesicht der Toten. Manchmal ist vielleicht auch Klara nahe daran gewesen, aufzugeben.

      Noch trägt sie den Satz der Mutter mit: «Ich werde euch besuchen kommen.» Sie hofft, über Wochen und Monate hinweg, wartet. Im April 1923 schickt Sophie Bärfuss ein Gebetsbüchlein und ein Heiligenbildchen zu Klaras Erstkommunion. Es ist das erste Lebenszeichen der Mutter. Es bleibt das einzige.

      «Sie kam nie mehr. Sie war zu krank.»

      Ein paar wenige Worte machen schliesslich jede Hoffnung zunichte. Ende 1923, vielleicht auch erst 1924, wird den Bärfuss-Schwestern mitgeteilt: Die Mutter sei gestorben. Nicht wann, nicht wo, nur: tot. Die Fragen der Mädchen bleiben unbeantwortet. Sie wissen nur, dass sie jetzt Waisen sind. Mit dem Schmerz müssen sie selber fertig werden, jede für sich. «Es setzte mir schon sehr zu.» Die Oberschwester ordnet eine Andacht an: Neun Tage lang beten während der Mittagspause. In der Kapelle. Danach geht der Alltag weiter. Niemand spricht mehr von der Mutter.

      Sie hätten einander nun mehr denn je gebraucht, die vier Schwestern: Dora, Paula, Klara und Fanny. In Mariazell sieht man es jedoch nicht gern, wenn Geschwister sich gegenseitig unterstützen. Daran ändert auch der Tod der Mutter nichts.

      Dora, die älteste und aufmüpfigste der vier, spricht manchmal Französisch mit den Schwestern. Der Vater hatte viele Verwandte im Welschen, und auch in der Familie Bärfuss war manchmal Französisch gesprochen worden. Dora fürchtet, die Schwestern könnten die Sprache im Kinderheim verlernen. Den Klosterfrauen sind die sprachlichen Eskapaden ein Dorn im Auge: «Sie redeten selber nicht alle Französisch und hatten es deshalb nicht gerne, wenn wir es taten. Also versuchten sie, uns möglichst voneinander fernzuhalten.»

      Kontakte zu Geschwistern, die nicht im Kinderheim leben, sind ohnehin verboten. Auch Sepp ist inzwischen ja in Luzern, im Wesemlin, dem Kinderheim des Seraphischen Liebeswerks: «Wir wussten, wo er war, aber wir durften nicht mit ihm verkehren.» Auch mit Fanny nicht – als die jüngste der Bärfuss-Schwestern dann von Mariazell fort kommt.

      1925 besucht ein Ehepaar aus Stüsslingen im Kanton Solothurn das Heim. Herr und Frau von Arx möchten ein Kind adoptieren. Die kleine Klara gefällt ihnen auf Anhieb. Aber Klara will nicht. Nicht adoptiert werden und vor allem nicht weg von den Geschwistern. Sie erinnert sich an die Worte der Mutter: «Ich wusste, dass Muetti gesagt hatte, sie wolle die Familie beieinander behalten. Ich sagte dann, ich komme nicht.» Also nehmen Herr und Frau von Arx Fanny, die jüngere Schwester. Fanny, anstelle von Klara. Später erst taucht der Gedanke auf: «Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn ich gegangen wäre.»

      Fanny – in Zwingen hat Klara auf die kleine Schwester aufgepasst, hat sie in den Wald mitgenommen; hat sie vermisst, als sie nach Montreux musste, zur Tante. Nun ist auch Fanny weg, von einem Tag auf den andern aus Klaras Leben verschwunden.

      Nach Fanny geht Dora: «Sie kam aus der Schule und musste dann arbeiten gehen.» Die ältere hat der jüngeren Schwester immer bereitwillig erzählt, was sie von der Familie weiss. Die Jüngere hat begierig zugehört: «Ich habe mich immer dafür interessiert, woher ich komme.» Klara vermisst Dora. Die Schwester, an der sie sich orientiert, die sie bewundert. Die sie, vor allem, gern hat.

      Klara und Paula: Nur zwei der vier Bärfuss-Schwestern sind jetzt noch in Sursee. Paula; Päuli. «Sie war immer eine Stille, konnte dasitzen und ins Blaue starren, und man wusste nicht, was sie sieht. Sie war einfach verschlossen… für sich. Päuli war auch nie an der Familiengeschichte interessiert. Sie war so ein dreamer. Warum? Ich weiss nicht. Sie war halt lange bei der Tante in Montreux.»

      Dann aber hat Paula einmal Glück. Ihre Firmgotte, die sich manchmal ein wenig um sie kümmert, verhilft ihr zu einer Lehrstelle. Paula wird Damenschneiderin. Claire erinnert sich nur an ein einziges anderes Kind aus dem Heim, das wie Paula eine Lehre hatte machen können.

      Nur Klara ist jetzt noch in Mariazell. Ein Jahr ist sie in Zwingen, sechs Jahre im Kinderheim zur Schule gegangen. Nach der siebten Klasse ist die obligatorische Schulzeit beendet. Bleibt noch das Haushaltungslehrjahr: «Die Mädchen machten dann noch ein Jahr Haushaltung. Wir waren jeweils eine Woche in der Küche und dann eine Woche in der Wäscherei. Wir mussten immer abwechseln. Zwischendrin, wenn alles in Ordnung war, musste man flicken und stricken. Blätze stricken und in die Pullover einsetzten, damit die Maschen nicht weitergingen. Das war gut, da konnte man vieles lernen, was einem später dann zugutekam.»

      «Später»; bald schon. Nach dem Haushaltungslehrjahr werden die meisten Mädchen auf Bauernhöfen untergebracht. Eine nach der andern aus der Klasse verlässt Mariazell. Bis nur noch Klara übrig ist. Wieder nur Klara. «Die Oberin sagte, sie könne mich nicht zu Bauern geben, ich sei nicht zum Bauern geschaffen. Ich war zu zimperlich. Ich wollte immer sauber sein und habe mich oft gewaschen. Wir waren so erzogen worden, und das bleibt dann halt. Wir waren sieben in der Klasse, alle andern waren bereits bei Bauern. Ich fragte die Oberschwester einmal, warum ich noch da sei. Sie sagte, sie habe einfach noch keinen Platz für mich.»

      Klara wäre gerne länger in die Schule gegangen. Hätte gerne Sprachen gelernt. Überhaupt gelernt. Sie weiss, welcher Beruf ihr gefallen würde: Krankenschwester. Und weiss auch, dass eine Lehre für eine wie sie nicht infrage kommt. Nicht einmal den Wunsch hätte sie sich auszusprechen gewagt. Paula, «Päuli»: hat sehr viel Glück gehabt.

      Nicht zum Bauern geschaffen sei sie, sagt die Oberin. Aber auch Klara selbst behagt die Vorstellung, auf einem Bauernhof zu arbeiten, nicht. Das wird sie später auch Hans Moser sagen, dem jungen Bauern aus dem Bernbiet, der sie heiraten möchte. Hans Moser wird den langen Weg auf sich nehmen und Klara während des Kriegs im Tessin besuchen. Er wird sie beschwichtigen, sie müsse sich nur um das Haus kümmern, nicht aufs Feld, nicht in den Stall, nichts tun, das ihr nicht behage. «Ich sagte, ich könne das nicht. Jeden Morgen um vier Uhr aufstehen zum Grasen.»

      Bäuerin werden, das hiesse auch: Wurzeln schlagen. Klara wird ihr Leben lang immer wieder weiterziehen. Wird sich niederlassen, um wieder aufzubrechen. Möglich, dass es vor allem andern die Sesshaftigkeit war, die sie schreckte. «Hans Moser war ein sehr netter Mann. Ruhig… ruhig, ja.» Das Foto von Hans Moser in Uniform hat Claire bis heute behalten. Es findet sich dann doch noch eine Stelle für Klara. In Adligenswil im Haushalt von Frau Stadelmann, einer alleinstehenden Hauswirtschaftslehrerin. Klara ist jetzt fünfzehn Jahre alt. Alt genug, auf eigenen Beinen zu stehen.

4 BANANEN

      Sophie Bärfuss bleibt Vorbild für Klara, auch in der Pubertät. Wenn sie eine Entscheidung treffen muss, orientiert sie sich an der Mutter. Wie sehr, das zeigt die Geschichte mit den Bananen:

      Klara ist etwa dreizehn Jahre alt, als ein Mädchen aus ihrer Klasse eine Banane in die Schule bringt. Die Lehrerin erklärt den Kindern die Frucht, schneidet sie in kleine Stücke. «Wir waren etwa fünfzehn im Klassenzimmer, und jedes bekam ein wenig von der Banane zum Versuchen.» Keines der Kinder hat zuvor schon einmal eine Banane gesehen. Klara mag den Geschmack. Sie mag ihn sehr.

      Ein paar Tage später wird sie


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