Dem Logos zuhören. Udo Stenz
tragen aber an sich Eigenschaften, die dazu führen, dass sie sich zu unterschiedlichen Seienden zusammensetzen können. Jede geschaffene Monade entfaltet sich, ihrer Entelechie folgend, gleichsam als Kraftzentrum, ohne dass sie auf andere Monaden einwirkt. Die Wirkung auf geschaffene Monaden bleibt der ungeschaffenen vorbehalten107. Husserl knüpft an die Monadenlehre an. An einem entscheidenden Punkt geht er aber über Leibniz hinaus. Monaden haben nach dessen Darstellung „keine Öffnungen, wodurch etwas in dieselben hineintreten oder aus ihnen herausgehen könnte“108. Husserl hingegen stellt fest:
„Leibniz sagt, Monaden haben keine Fenster. Ich aber meine, jede Seelenmonade hat unendlich viele Fenster, nämlich jede verständnisvolle Wahrnehmung eines fremden Leibes ist solch ein Fenster, und jedes Mal, wenn ich sage, bitte, lieber Freund, und er antwortet mir verständnisvoll, ist aus unseren offenen Fenstern ein Ichakt meines Ich in das FreundesIch [sic!] übergegangen und umgekehrt, eine wechselseitige Motivation hat zwischen uns eine reale Einheit […] hergestellt.“109
So kann Husserl mithilfe des Begriffs der Monade das Ich beschreiben: „Die Monade ist seiend als identisches Ich eines intentionalen und als das konstituierenden Lebens, eines aktuellen und vermöglichen [sic!] Bewusstseinslebens“110. Dabei sieht er die Monade aber in einem entscheidenden Punkt anders: Im Gegensatz zur Monade nach leibnizschem Zuschnitt haben die Monaden Husserls „Fenster“111. Das Ur-Ich, gedacht als Monade, verharrt nicht nur bei dem eigenen transzendentalen Ich, sondern von seinem eigenen Innersten her und dieses transzendierend findet es gleichsam durch eine Öffnung den Weg aus sich heraus.
Die dialektische Spannung, die hier deutlich wird, lässt sich in einem Bild erläutern: Sie ist vergleichbar mit der Bewegung des Herzens, die sich in Zusammenziehen und Öffnen vollzieht. In Systole und Diastole, die nicht nur aufeinander folgen, sondern auch einander bedingen, entsteht ein Rhythmus, der die Spannung nicht auflöst, sondern sie als vitales Prinzip eines Organismus fruchtbar macht. So lässt sich der Zusammenhang zwischen Ich und Welt näher verstehen, den die Phänomenologie beschreibt. Sieht man den Rückzug in die tiefsten Gründe des eigenen Ich als Systole, so folgt als Diastole dessen Austritt aus sich selbst, hinein in die Konstitution der Welt.
Die Konstitution der Welt vollzieht das Ich entlang dem transzendentalen Leitfaden112 seiner Erlebnisse, der es aus der urgründigen Extramundanität des Ur-Ich hinausführt. Neben der Konstitution der Welt, in eins fallend mit ihr, konstituiert das Ich aber auch sich selbst in seiner Leibhaftigkeit. Das Erlebnis in seiner jeweiligen Eigenart vermittelt dem Ich nämlich nicht nur das Erscheinen des wahrgenommenen Gegenstandes, sondern zugleich seinen eigenen Leib: Der gegenständliche Körper des Menschen wird durch die an ihm gleichsam kristallisierenden Erlebnisse des Ich zum lebenden Körper. Zum materiellen Organismus kommt die Immaterialität der Erlebnisse, die das Ich in seinem Leib-sein konstituieren113. Leben im husserlschen Sinne ist demnach intentionales Konstituieren. Das Konstituieren konkretisiert Absolutes: Das konstituierende absolute Sein wird relative Realität. Leben ist damit der Vorgang des Erlebens, das kontinuierliche Heraustreten des Ich aus dem Ur-Ich. Das Ich verdankt sich also in seiner lebendigen Leibhaftigkeit letztlich dem Erlebnis, dem reinen Akt seines Bewusstseins114, also derjenigen Struktur, die der Wahrnehmung der Welt zugrunde liegt. Ohne Erlebnisse, die getragen werden vom Ur-Ich, das als „reines Bewusstsein“ „absolut gegeben“115 ist, gelangt das Ich nicht einmal zu seinem Leib.
Hier ist allerdings sorgfältig zur Vermeidung von Missverständnissen zu beachten, dass nach Husserl die Konstitution des Leibes auf doppelte Weise erfolgt, und zwar einerseits als „physisches Ding“ und andererseits als Träger des Empfindens, von Leibesvorkommnissen also, die Husserl „Empfindnisse“ nennt und die ihn von materiellen Dingen und von seinem eigenen Materie-sein abgrenzt116. Um Letzteres geht es in der vorliegenden Darstellung.
1.1.1.3Leib und Fleisch als Kristallisationspunkte des Lebens
Damit ist der Leib als derjenige Punkt identifiziert, an dem das Leben des Ich als solchen und des Ich in der Welt kristallisiert. Dieses geschieht aber nach allem, was bisher erörtert wurde, nicht in der psychologischen oder biophysischen Verfasstheit eines individuellen Bewusstseins im empirisch-naturwissenschaftlichen Sinne, sondern in der transzendentalphänomenologischen Gründung des absoluten Bewusstseins, das als je meines im Ur-Ich gegeben und ihm vorgegeben ist. In diesem absoluten Bewusstsein liegt die Wahrheitsfähigkeit der Phänomenologie beschlossen. Hier ist der Ort, an dem sich der Logos im Sinne einer faktisch vorgegebenen in sich stehenden Gewissheit in seinem transzendentalen und transzendenten Ursprung verständlich macht117. Deshalb muss die Abgrenzung der absoluten Immanenz von der psychologischen Erfahrung mit aller Sorgfalt vorgenommen werden:
„Das ‚reine’ Bewusstsein und durch es sein Gemeintes als solches soll der reinen Reflexion in besonderer Weise ‚immanent’, es soll in ihr ‚absolut gegeben’ sein. Und das soll ein radikaler Unterschied sein gegenüber der Immanenz des psychologisch Erfahrenen (innerlich Erfahrenen) in der psychologischen Erfahrung und gegenüber allem naturalen Bewusst- und Gegebensein überhaupt.“118
Die Phänomenologie hat in jüngerer Zeit versucht, den Leib als Kristallisationspunkt der Konstitution von Welt näher präzisierend zu beschreiben119. Auf der Suche danach, wie die Wirklichkeit absoluter Immanenz näher und ausführlicher als nur in der Abgrenzung zu psychologischer Erfahrung beschrieben werden kann, fällt der Blick auf das Denken von M. Henry (1922 – 2002). In begrifflicher Deutlichkeit definiert er als phänomenologischen Angelpunkt das Fleisch. Damit zieht er zunächst eine klare Trennlinie zu jeder psychologisierenden Betrachtung. Entgegen dem ersten Anschein, nach dem Fleisch etwas rein Medizinisches oder Biologisches sein mag, verankert er es jedoch ähnlich wie Husserl in einem tiefsten Urgrund, aus dem es hervorgeht.
Henry richtet allerdings einen in wesentlichen Punkten ablehnenden Blick auf das Werk Husserls. Er gesteht ihm zwar zu, dass er „eine der wichtigsten Bewegungen des Denkens in unserer Zeit – und vielleicht aller Zeiten – hervorgerufen“ habe120. In der zuvor diskutierten Frage des Selbsterscheinens des Ich aber wirft er im vor, in einem „Staatsstreich sondergleichen“121 letztlich das wieder zum Fundament gemacht zu haben, was bereits phänomenologisch ausgeschieden war, und lässt ihn in einer Aporie enden122. Diese ergebe sich daraus, dass Husserl nicht gehörig differenziere; für ihn sei alles Erscheinen ein Erscheinen von Welt, auch das reflexive Erscheinen des Ich selbst. Dies aber führe im Denken zu einem Regressus ad infinitum123. Denn jedes Erscheinen von Welt sei an und für sich wiederum zu betrachten als Welt, die erscheine. Husserl begehe den großen Fehler, das Erscheinen der Welt mit jedem denkbaren Erscheinen zu verwechseln124. Die Kette der Phänomene werde dadurch zwar immer tiefer und reduzierter, aber unendlich lang. Insbesondere sei eine verbindliche religiöse Offenbarung damit nicht zu denken. Beim Welterscheinen nämlich, erläutert Henry, sei die Konstitution der Welt in das Bewusstsein verlegt, das als Bewusstsein von etwas die Intentionalität zu der Bewegung erkläre, die zu den Sachen selbst führe125. Wenn aber Welterscheinen selbst wiederum Erscheinen von Welt wäre, dann würde auch „das offenbarende Vermögen, das heißt die Offenbarung selbst“ in das Bewusstsein hinein versetzt und damit von jenem ins Außen entworfen126. Ein Offenbarungsbegriff, der jedoch im Bewusstsein verharre, sei mit einem Verständnis der Offenbarung nach christlicher Lehre als allein von Gott ausgehend127 nicht vereinbar, sodass mit ihm der Zugang zum Christentum versperrt wäre128. – Diese Kritik vermag jedoch die Konzeption Husserls in ihrem Grunde nicht zu erschüttern. Husserl differenziert zwar nicht expliciter zwischen verschiedenen Arten des Erscheinens; indes stellt er impliciter klar, dass das Erscheinen kein Regressus ad infinitum ist, sondern dass es in der absoluten Gegebenheit des reinen Bewusstseins unhintergehbar verortet ist. Diese ist es, die den phänomenologischen Ansatz für positive Offenbarung offen hält.
M. Henrys Ansatzpunkt ist die Differenzierung zwischen Welterscheinen und Erscheinen des Lebens129. Das unterscheidet auf den ersten Blick seine Phänomenologie von derjenigen Husserls. Der denkende Mensch