Dem Logos zuhören. Udo Stenz

Dem Logos zuhören - Udo Stenz


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an das Gedachte bindet9 und damit eine Totalität herstellt, die Lévinas als „Krieg“ bezeichnet10 und mit der er dasjenige meint, was vom herkömmlichen philosophischen Denken als das Sein bezeichnet wird11. Lévinas formuliert seine Gedanken nicht zuletzt unter dem (Ein-)Druck der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, namentlich der Menschen verachtenden Kriege und Vernichtungen. Er fordert die Hinwendung zu einem Denken, das den Vorrang und die Zentralität des Menschen philosophisch ausdrücken und absichern kann. Subjekt und Objekt der Erkenntnis sollen getrennt voneinander bleiben; es ist ein Abstand zu wahren zwischen dem Selben und dem Anderen12. Beide sind nicht in ein System einzubinden. Dennoch besteht eine Beziehung, insofern das Andere immer wieder in den Horizont des Selben einbricht und sich Geltung verschafft. Die Bewegung im Denken kehrt sich bei Lévinas also um: Sie geht nicht mehr vom denkenden Subjekt aus hin auf den Gegenstand, sondern gestaltet sich als Empfangen von etwas, das sich zuwendet; aus dem Ergreifen wird ein Ergriffen-Sein.

      Damit steht die Philosophie und stehen die Geisteswissenschaften schlechthin an einem Scheideweg, denn es drängt sich die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit des Denkens auf. Genauer gesagt: Kann noch mehr Wahrheit erreicht werden als diejenige, die geometrisch und astronomisch festzustellen ist?

      Diese Frage hat sich auch in der Lyrik in folgendem Gedicht von Novalis (eig. F. L. Freiherr von Hardenberg, 1749 – 1832) artikuliert, in dem in eindrücklicher Weise für eine Neubekehrung des Denkens über die Naturwissenschaften hinaus hin zum Logos ein plädiert wird:

      „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

      Sind Schlüssel aller Kreaturen,

      Wenn die so singen, oder küssen,

      Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

      Wenn sich die Welt ins freie Leben

      Und in die freie Welt wird zurück begeben,[…]

      Dann fliegt vor Einem [sic!] geheimen Wort

      Das ganze verkehrte Wesen fort.“13

      Wenn die Vernunft darauf angewiesen sein soll, von der Wahrheit ergriffen zu werden, so liegt sie in ihrer Schwachheit offen; sie zeigte, dass sie über die Naturwissenschaften hinaus aus sich nicht zur Wahrheit fähig ist. Diesen Schluss zieht in letzter Konsequenz das Schwache Denken bis hin zum postmodernen Nihilismus14.

      Lévinas und mit ihm das Dialogische Denken (auch: Personalistisches oder Neues Denken), als dessen profilierteste Vertreter F. Ebner (1882 – 1931), F. Rosenzweig (1886 – 1929) und M. Buber (1878 – 1965) sowie in jüngerer Zeit B. Casper (geb. 1936) gelten können, nimmt dazu konsequent den anderen Menschen in den Blick. Lévinas spricht vom Antlitz, das in die Welt des Subjekts einbricht und diese Frage stellt. Über das Antlitz des Anderen erschließt sich das Unendliche, aber es läuft nicht in eine Totalität hinein, sondern geht über eine adäquate Idee hinaus und lässt sich nicht integrieren15. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass der Umbruch des Denkens letztlich ethisch motiviert ist. Vom ethischen Ansatzpunkt aus wird die Lehre vom Sein völlig neu geordnet: Das Verhältnis zum Anderen, bisher in der Ontologie vergessen, wird als „Exteriorität“ bezeichnet und radikal metaphysisch verstanden16. Die Begegnung mit dem Antlitz ist der konkrete Punkt, an dem das Unendliche, die Beziehung zu Gott, dem Subjekt zukommt17 und es neu aus einem „Dialog der Liebe“18 hervortreten lässt.

      Dadurch erhält die Frage nach der Wahrheit eine neue Antwort. Ihre herkömmliche Bezeichnung als Adaequatio intellectus et rei19 genügt nicht mehr; Wahrheit wird herausgenommen aus dem Leistungsfeld des Subjekts und seines Intellekts allein, vielmehr ethisch gewendet und mit der Gerechtigkeit und der Freiheit verknüpft20. Wahrheit verschafft sich Geltung in dem Einbrechen des Anderen, und die Erkenntnis ihrer geht aus der Selbstkritik hervor21. Aus der Exteriorität schickt sich eine Freiheit zu, die nach Lévinas eine universale Ordnung reflektiert22 und in der Begegnung mit einem anderen Menschen, mit dem Dritten, zum Durchbruch kommt. Dem Anderen kommt zu guter Letzt ein ontologischer Status für das Subjekt zu. Dieser realisiert sich im Dialog.

      All das wirft einige Fragen auf. Die erste: Tritt in der Logik dieses Denkens also der Dia-Logos an die Stelle des Logos, oder wird er ihm übergeordnet? Der Logos bezeichnet philosophisch das Verhältnis, das Ineinandergehen von Wahrheit und Vernunft. Kann davon noch die Rede sein, wenn Vernunft und Wahrheit als philosophische Prozesse, als Bewegungen gesehen werden, die der Erfüllung und der Sinngebung aus dem Einbruch des Anderen, gar des Jenseitigen, bedürfen? Mit anderen Worten: Wird der Logos dann nicht mehr innerhalb der Philosophie gesucht, sondern ist er ihr fremd?

      Des Weiteren stellt sich die Frage nach der Natur. Ihre Ordnung war in Mittelalter und Scholastik das alles Bestimmende. Galilei hatte sich ausdrücklich auf sie bezogen. In der Neuzeit war man hingegen von der Idee einer objektiv geordneten Natur abgekommen: Der Subjektivismus Descartes’ unterwarf sie dem methodischen Zweifel, Kant entrückte sie gar der menschlichen Erkenntnismöglichkeit. Das Neue Denken erkennt sie an, weist ihr aber eine der Person untergeordnete Rolle zu. Lévinas kennt Natur jeweils in Abhängigkeit vom Einbrechen des Anderen in den eigenen Horizont. In jüngerer Zeit hat sich vor allem in den praktischen Disziplinen wie z. B. der Pädagogik immer mehr die Erkenntnis wieder Bahn gebrochen, das es um das Subjekt herum etwas gibt, das es nicht selbst gemacht hat23. Allein schon diese Feststellung provoziert zu einer Beschäftigung mit etwas Vorgegebenen, was nicht in Abhängigkeit vom Subjekt selbst gesehen werden kann. Die Natur rückt auf empirischem Wege wieder neu ins Gesichtsfeld und fordert den Philosophen neu heraus.

      Zu dieser Herausforderung gehört es auch, die Felder von Naturwissenschaft und Philosophie kritisch auseinander zu halten. Beide können sich auf denselben Gegenstand beziehen: Beider Materialobjekt ist die Welt mit all dem, was in ihr wahrnehmbar ist, insbesondere dem Denken und Verhalten der Menschen. Die jeweilige Herangehensweise, das Formalobjekt hingegen, ist unterschiedlich: Die Naturwissenschaft beobachtet, was sich ihr bietet, und geht ihm gleichsam auf den Grund. Sie sucht, was hinter dem Beobachteten oder Wahrgenommenen steckt, also nach allgemein gültigen Kausalitäten und mathematischen Gesetzmäßigkeiten, aus denen Schlüsse darauf gezogen werden können, was weiterhin allgemein verbindlich erwartet werden kann. Diese Schlussfolgerungen sind dann unabhängig von der Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjekts. Die wahrgenommenen Qualitäten sind sekundäre, während die mathematischen Gesetzlichkeiten die primären Qualitäten sind, welche ausschließlich die Naturwissenschaft interessieren24. Die Philosophie hingegen tendiert auf das Ganze des Seins hin. Es ist ihr fremd, bestimmte Fragestellungen auszuschließen. So kann sie die Beschränkung der Naturwissenschaften auf die Mathematik nicht mitvollziehen25 und sich andererseits auch nicht von ihr in die Schranken weisen lassen.

      Daraus leitet sich die Weite des philosophischen Rahmens ab, in dem Dialog, Begegnungen und zwischenmenschliche Beziehungen betrachtet werden. Er kann nicht etwa durch soziologische oder neurowissenschaftliche Forschungen oder Thesen26 eingeengt werden. Von vorrangigem Interesse ist es für uns dabei, Begegnungen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten auszuleuchten, die sich für Gespräche zwischen Menschen bieten, und diese nicht nur kausal zu begründen, sondern intentional auf etwas hin zu orientieren, was als Logos bezeichnet werden darf. Wie also kann philosophisch gesehen ein Miteinander-sprechen nicht nur als Ereignis beschrieben, sondern in seinem letzten Grund aus einem Hinhören auf den Logos heraus verstanden werden, das sich also nicht nur aus psychischen, sozialen oder neuronalen Gesetzlichkeiten heraus erklärt, sondern auf ein Ziel hin orientiert?

      Zur Bearbeitung dieser Fragen bietet sich ein Blick auf die Phänomenologie an. Sie bringt auf der einen Seite das Subjekt, das Ich, in seinem Denken und Erkennen, und auf der anderen Seite den Gegenstand, der sich diesem Denken und Erkennen zeigt, ihm erscheint, in einen gegenseitigen Zusammenhang, in dem sich beide im Denken und Erkennen gleichsam aufeinander zu bewegen. Auch das dem Ich begegnende andere Subjekt wird in diesen Zusammenhang einbezogen. Und dieser Zusammenhang wird in einer so radikalen und objektiv


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