Dem Logos zuhören. Udo Stenz
überhaupt wirksam, das Erscheinen des Lebens, das sich im Fleische verwirkliche130, geradezu Fleisch werdend vollziehe131. Henry spricht dabei – in einen Vokabular, welches demjenigen Husserls nicht unähnlich ist – vom Erscheinen des absoluten Lebens. Dieses Erscheinen benötigt nicht, wie bei Husserl, einen Pol, sondern es ist ein Erscheinen seiner selbst und der unhintergehbare Ursprung allen Erscheinens. Dabei erscheint das Leben sich selbst zugleich als Subjekt wie als Objekt. Die eigene Gabe des Lebens an sich selbst ist die transzendentale und letzte Voraussetzung jeglichen Welterscheinens. Außerdem ist sie der Urgrund eines jeden Ich. M. Henry spricht zwar nicht von Ur-Ich, sondern vom Ersten Ich, formuliert jedoch dezidiert ähnlich wie Husserl:
"Indem sich das absolute Leben in der Ipseität des Ersten Sich selbsterprobend erfährt, zeugt es in seiner transzendentalen Möglichkeit jedes Sich und somit jedes denkbare Ich."132
Ähnlich wie bei Husserl sind auch in Henrys Gedankengang eine gewisse solipsistische Systole und eine daraus heraustretende Diastole zu erkennen. Denn was er als selbsterprobende Erfahrung des absoluten Lebens beschreibt, ist ein Vorgang, der sich im Subjekt vollzieht und von ihm erlebt wird. Andererseits aber beschreibt er sie als „Prozessstruktur des absoluten Lebens als Verhältnis phänomenologischer Innerlichkeit zwischen dem Leben und seinem göttlichen Wort“133. Hier zeigt sich also, dass Henry genau so wenig ein Solipsist ist wie Husserl, dass er andererseits aber genauer und differenzierter als dieser auf den Urgrund des Ich blickt. So lässt er die bereits beschriebene dialektische Spannung, die Husserl ebenfalls kennt, explizit und in einer größeren Schärfe aufleuchten, denn er fügt zwei unterschiedliche transzendentale Ebenen, die ontologisch-transzendentale und die phänomenologisch-transzendentale, im Ich selbst zusammen. Auf diesen beiden Ebenen gelangt man zu unterschiedlichen Aussagen über die Priorität des Ich, des Sich oder des Selbst. Das absolute Leben ist prioritär, sofern es ontologisch betrachtet wird. Phänomenologisch-transzendental betrachtet hat jedoch die selbsterprobende Erfahrung die Priorität. Sie allein erschließt dem Subjekt, also dem Ich, den Zugang zu einem absoluten Leben. Genauer gesagt: Das absolute Leben selbst gibt sich zu erschließen, dies aber immer nur und notwendig in der Ipseität des Ich. Hier klingt in andern Worten die Jemeinigkeit an, von der oben bei Husserl (und cum grano salis bei Heidegger) die Rede war. Das Sich-Geben des absoluten Lebens bindet sich an das Subjekt, erhebt es zum Ersten Sich und räumt ihm daher Priorität und phänomenologische Originarität ein134. Dabei ist es, insofern es sich an sich selbst gibt und damit auch empfängt, Ausgangs- und Zielpunkt zugleich.
Damit bestätigt und verdeutlicht sich die von Husserl bereits erkannte phänomenologische Originarität des Ich135. Dieses ist nicht zu verstehen als monadisch selbstgenügsam, vielmehr ist es geprägt von dem Vermögen einer
„jedem Vermögen oder Können unseres Leibes […] [sc. vorausgehenden] transzendentalen Affektivität […], sich an sich selbst zu geben und sich mithin alles zu geben, was sich an sich selbst nur in ihr gibt – in ihr, welche das Wesen des Lebens ist.“136
Auch Henrys Überlegungen führen also auf diejenige erscheinende Realität, die das Ich in seinem Innersten antrifft. Wie bei Husserl wird auch hier eine Spannung aufgedeckt, die nicht aufgelöst werden kann: In seinen tiefsten Gründen entdeckt das Ich etwas, das es nicht selbst ist und das nicht von etwas anderem abhängt, nicht mehr auf etwas anderes verweist – insbesondere nicht in einer phänomenologischen Erscheinung, sondern das sich in sich selbst zeigt. Was als Kritik von Seiten Henrys intendiert ist, das Erscheinen des absoluten Lebens, kann als Interpretament für Husserl dienen, der in einer gewissen Unschärfe ausführt:
„In meiner geistigen Eigenheit bin ich aber doch identischer Ichpol meiner mannigfaltigen ‚reinen’ Erlebnisse, derjenigen meiner passiven und aktiven Intentionalität, und aller von daher gestifteten und zu stiftenden Habitualitäten.“137
In diesem summarischen Überblick lässt sich eine große Ähnlichkeit in der Grundstruktur der phänomenologischen Betrachtung des Ich in seinem leiblichen Konstituieren von Welt nachzeichnen: Beide Autoren erkennen eine dialektische Spannung in der Tiefe des Ich, die dieses gleichzeitig zu sich selbst und über sich hinaus führt. Das Ich kommt im tiefsten Grund seiner selbst zum Ur-Ich, zum absoluten Bewusstsein (Husserl) oder zur Erscheinung des absoluten Lebens (Henry). Von dieser Systole her erschließt sich nun die diastolische Bewegung. Husserl und Henry beschreiben also die gleiche Struktur von Systole und Diastole, wenn auch infolge ihrer unterschiedlichen Grundanliegen in den Denkansätzen unterschiedlich. Für Husserl geht es in der Phänomenologie um die Darlegung einer Prima philosophia. Damit verbleibt sie in den religiös neutralen Begriffsfeldern rund um das Ich, das Erscheinen, das Erlebnis, den Leib, das Leben usw.; Henry hingegen möchte die Phänomenologie in den Dienst des Verständnisses der Offenbarung in Jesus Christus stellen und legt sich mit seinen Überlegungen zu einer Phänomenologie des Fleisches ein denkerisches und begriffliches Instrumentarium zurecht, das zur Darlegung der johanneischen Inkarnationstheologie des Fleisch gewordenen Wortes (Joh 1, 14) dient138. Dabei versteht sich Henrys Phänomenologie nicht ausschließlich christlich, sondern erhebt den Anspruch, allgemeine philosophische Grundlage zu sein. Trotz der Anlehnung an die johanneische Theologie zeigt sie daher bereits die Richtung, in der das Religiöse schlechthin „in die Mitte menschlicher Existenz“ zurückkehren139 kann. Es zeigt sich hier also eine inkarnatorische Logik, die schon im Denken Husserls grundsätzlich erschlossen wurde. Der Kristallisationspunkt für die Phänomene ist für Husserl der Leib, für Henry das Fleisch. In der lebenden Leiblichkeit (Husserl) des Fleisches (Henry) begegnet das Ich in der dialektischen Spannung von Systole und Diastole sich selbst, der Welt und dem Anderen.
1.1.1.4Die Erfahrung der Welt und die Intersubjektivität aus dem Ich heraus
Im tiefsten geheimnisvollen Abgrund, der im Ur-Ich liegt, am Beginn des transzendentalen Leitfadens, fallen die Konstitution des Ich und die Konstitution der Welt und damit nunmehr auch des Anderen als Nicht-Ich zusammen; beides ist in unaufhebbarer Spannung apodiktisch und universal vorgegeben:
„Hier ist eine apodiktische Universalstruktur vorgezeichnet – in meinem ego, in jedem ego überhaupt –, eine egologische Intersubjektivität als in jedem ego in seiner eigenen Struktur vorgezeichnet.“140
Die apodiktische Struktur, die dem Ich vorgezeichnet, also von ihm verschieden und ihm unverfügbar gegeben ist, führt das Ich nicht nur zu seinem eigenen Geheimnis, zu dem also, was es nicht benennen kann, von dem her es nämlich ergriffen ist, sondern das Ich verweist gleichermaßen über sich selbst hinaus hin auf das andere Subjekt141. Es gibt eine egologische Intersubjektivität, die schon dem Ur-Ich eigen ist.
Die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit, das eigene Leben des Ich, lässt den Anderen erkennen. Die Erkenntnis des Anderen entspringt dem Ur-Ich, in dem der Andere schon angelegt ist:
„Die Anderen sind in mir, in meinem in sich geschlossenen transzendentalen Leben in bestimmter Motivation erwachsene Geltungsgebilde, habituell mir eigener Erwerb, wieder identifizierbar, durch erneuerte Erfahrung synthetisch bewährbar. Und so sehe ich und sage ich: Sie sind in Wahrheit und gemäß dem in mir konstituierten Sinn ‚meinesgleichen’, mit ihrem transzendentalen Leben, das ich durch die Selbstvergegenwärtigungsart (in mir motivierter) Fremdappräsentation analogisch erfahre, in einer Art, die es mir ermöglicht, in meinem ausgebildeten Vermögen, dem Selbst des Anderen immer näher zu kommen, von ihm immer vollkommener Kenntnis und Erkenntnis zu gewinnen – immer in Form von Modis [sic!] der Selbstvergegenwärtigung.“142
Von hier aus erschließt sich die Bedeutung des anderen Menschen für das denkende Subjekt. Wenn der Denkende in den Akten des Bewusstseins die Welt im Wege der phänomenologischen Reduktionen gleichsam in sich hinein holt und in sich konstituiert, dann ist auch der Andere als Teil dieser Welt demselben Prozess der Erkenntnis unterworfen und hat damit für das Ich eine wechselseitig konstitutive Bedeutung. Die Subjekte stehen somit nicht bloß nebeneinander, sondern sind über die Intentionalität miteinander verbunden.