Lebendige Seelsorge 3/2018. Erich Garhammer

Lebendige Seelsorge 3/2018 - Erich Garhammer


Скачать книгу
des Kirchenrechts auf der Basis des II. Vatikanums fordert, und die Mehrheit der kirchenrechtlichen Kollegen und Kolleginnen sich dann irgendwo dazwischen situiert. Leichter macht es das dem pastoraltheologischen Gesprächspartner, der natürlich mit Demels Position sympathisiert, nicht.

      Es braucht eine Lebens- und Sozialform, die nicht primär juridisch, sondern situativ, aufgabenbezogen und an der Praxis des Glaubens orientiert ist.

      Es bleibt jedenfalls das Problem, dass die Präsenz des Evangeliums in postmodernen Zeiten eine Lebens- und Sozialform braucht, die nicht primär in juridischen Kategorien, sondern situativ, aufgabenbezogen und primär an den praktischen Konsequenzen des Glaubens orientiert ist. Papst Franziskus scheint das konsequent zu realisieren: Franziskus regiert die Kirche offenkundig nicht auf der Basis der nachtridentinischen Ekklesiologie, also des Prinzips von Über- und Unterordnung, sondern auf der Basis der Inhalte des Glaubens als praktischer Wahrheiten. Er realisiert damit konsequent das konziliare Projekt auch ad intra.

      Dass etwa die möglichen kirchenrechtlichen Konsequenzen von Amoris laetitia in die Fußnoten gewandert sind, signalisiert die längst fällige Umkehr der Relevanzhierarchie von Pastoral und Recht in der Bestimmung des konkreten Handelns der Kirche. Wenn dagegen deutsche Bischöfe beim Papst wieder einmal anfragen, „Was gilt?“ – drehen sie dieses Verhältnis wieder ins alte Muster zurück.

      PÄPSTLICHE PERSPEKTIVEN

      Im Promulgationsdekret des CIC 1983 heißt es, es scheine „hinreichend klar, daß es keinesfalls das Ziel des Kodex ist, im Leben der Kirche den Glauben, die Gnade, die Charismen und vor allem die Liebe zu ersetzen“. Das zu lesen freut den Pastoraltheologen. „Im Gegenteil, Ziel des Kodex ist es vielmehr, der kirchlichen Gesellschaft eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und dem Charisma den Vorrang einräumt und zugleich ihren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert“ (Johannes Paul II., XI). Man lese es genau: Bei der Promulgation des CIC sprach der Papst vom „Vorrang der Liebe, der Gnade und des Charismas“, ja von einer Ordnung, bei der dies alles den Vorrang habe. Aus pastoraltheologischer Perspektive kann man dazu nur sagen: Das wäre es.

      Das Recht hat die Schwachen zu schützen, Konflikte zu befrieden und, das ist nun speziell kirchlich, den Raum von Gnade und Barmherzigkeit offen zu halten. Das Kirchenrecht kann sich deshalb keine Menschenrechtsprobleme leisten, sich nicht auf vergangene Lebens- und Sozialformen von Kirche stützen und sich nicht an die Stelle der Pastoral setzen. „‚Rechtskirche‘ und „Liebeskirche“, um eine alte, polemische und konfessionelle Konfrontation aufzunehmen, sind tatsächlich keine Alternativen, aber sie konstituieren einen realen Kontrast. Er ist gegenwärtig weit davon entfernt, kreativ zu sein, meist ist er banal, weil irrelevant geworden, bisweilen ist er destruktiv geblieben.

      Dass er schöpferisch werden könnte, daran glaubt fast niemand mehr. Dass dies nur bei einer Umkehr hin zur Priorität der Pastoral, nur bei einer wirklichen „conversión pastorale“ (Evangelii gaudium 27) vielleicht wird gelingen können, wird man dem Pastoraltheologen erlauben festzuhalten, und vielleicht auch, dass es dazu wohl ein neues kirchliches Gesetzbuch brauchen wird.

      LITERATUR

      Baumeister, Martin/Böhnke, Michael/Heimbach-Steins, Marianne/Wendel, Saskia (hg.), Menschenrechte in der katholischen Kirche, Paderborn 2018.

      Bucher, Rainer, Die notwendige Umkehr. Die pastoraltheologische Herausforderung der Ausgetretenen, in: Bier, Georg (Hg.), Der Kirchenaustritt. Rechtliches Problem und pastorale Herausforderung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013a, 235 – 250.

      Ders., Die Optionen des Konzils im Rezeptionsprozess der deutschen katholischen Kirche, in: Kirschner, Martin/Schmiedl, Joachim (Hg.), Diakonia. Der Dienst der Kirche in der Welt, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2013b, 79 – 99.

      Demel, Sabine, Das Recht fließe wie Wasser. Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?, Regensburg 2017.

      Johannes Paul II., Apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges (25. Januar 1983), in: AAS 75 (1983) Pars II.

      Loretan, Adrian, Die Freiheitsrechte in der katholischen Kirche. Aporien und Desiderate, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 55 (2014) 131 – 154.

      Lüdecke, Norbert/Bier, Georg, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 2012.

      Lüdecke, Norbert, Der Codex Iuris Canonici von 1983: „Krönung“ des II. Vatikanischen Konzils?, in: Wolf, Hubert/Arnold, Claus (Hg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn 2000, 209 – 237.

      Pasero, Ursula, Geschlechterforschung revisited. Konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven, in: Wobbe, Theresa/Lindemann, Gesa (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt a. M. 1994, 264–296.

      Pastoral vs. Kirchenrecht – benötigen wir wirklich eine Neuauflage des Tragödienklassikers?

      Rainer Bucher analysiert die Schwächen des geltenden Kirchenrechts. Er diagnostiziert es als zweifach kränkelnd, material und prozedural. Materialiter bleibe das Recht hinter dem Konzil zurück (oder zumindest hinter einer bestimmten Lesart des Konzils, würde Norbert Lüdecke wohl korrekt bemerken, vgl. Lüdecke 2007, 54; Ders. 2012, 64). Doch nicht nur hinter dem Konzil, sondern auch hinter den Errungenschaften moderner demokratischer Rechtsordnungen, wie Bucher an der Menschenrechteproblematik festmacht. Neben materialen Problemen des Rechts stehen prozedurale. Bucher deutet auf den absolutistischmonarchischen Zuschnitt von Kirchenleitung, die fehlende Gewaltenteilung und die mangelnd durchgängige Gestaltung des kirchlichen Rechtsschutzes. Man muss nicht viel Luhmann gelesen haben, um zuzustimmen, dass diese prozeduralen Defizite bei rechtsstaatlich und demokratisch sozialisierten Kirchengliedern Legitimitätsfragen erzeugen (vgl. Luhmann 1970, 190).

      Gegen Buchers Diagnose habe ich wenig einzuwenden. Unsere Beobachtungen decken sich weitgehend. Die Frage ist nur, was tun mit dieser Erkenntnis? Und hier, so mein Eindruck, gehen unsere Ansichten auseinander. Bucher spricht über das Kirchenrecht: was es leisten müsste und warum ihm dies nicht gelingt. Und er spricht über Kanonistinnen und Kanonisten und ihre grundverschiedenen Strategien, die Spannung zwischen Geltung und Faktizität auszuhalten. Auffällig ist, wie wenig von der Pastoral und der Pastoraltheologie die Rede ist. Ich vermisse den Blick auf das eigene Fach und den eigenen Gegenstand, der sich zum Beispiel in der Frage konkretisieren müsste, ob und inwieweit gelungene Pastoral das Recht benötigt – und welches.

      Buchers These, dass „die Präsenz des Evangeliums in postmodernen Zeiten eine Lebensund Sozialform braucht, die nicht primär in juridischen Kategorien, sondern situativ, aufgabenbezogen und primär an den praktischen Konsequenzen des Glaubens orientiert ist“, impliziert eine Gegensätzlichkeit, die ich nicht teile. Denn sind Sozialformen, die situativ, funktional und pragmatisch zu agieren vermögen, nicht zumeist rechtlich integriert? Als ob die Pastoraltheologie ohne juridische Kategorien auskäme, wenn sie über Strukturen spricht!

      Scharfsinnige Argumente gegen die These, dass Recht ein notwendiges Instrument sozialer Integration sei, kommen zurzeit gut an (vgl. Loick). Ich selbst kann mich ihnen nicht anschließen. „Ubi societas/communitas ibi ius“ oder mit Luhmann: „Kein System kann über längere Zeit hinweg […] normative Erwartungen handhaben, ohne daß […] Recht anfällt“ (Luhmann 1984, 451). Juridische Kategorien sind omnipräsent, wir entgehen ihnen nicht. Das Juridische ist ein unhintergehbarer Aspekt des Sozialen. Für die Kirche gilt nichts anderes. Nicht die juridischen Kategorien sind hier das Problem, sondern die Verrechtlichung von Fragen, die keine rechtlichen sind, prozedurale Defizite, vormoderne Entscheidungsstrukturen und neuscholastisches Schwarz-Weiß-Denken. Die kirchliche Tragik liegt nicht im Juridischen, sondern im vormodern Juridischen. Der Kanonist Werner Böckenförde notierte zutreffend: „Kirchenrecht ist unentbehrlich, um einen geordneten Austrag von Konflikten zu ermöglichen. Wir brauchen nicht weniger kirchliche Normen, sondern andere, welche die Bezeichnung Recht


Скачать книгу