Lebendige Seelsorge 3/2018. Erich Garhammer

Lebendige Seelsorge 3/2018 - Erich Garhammer


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      Auch Bucher relativiert seine Rechtskritik, indem er schreibt: „‚Rechtskirche‘ und ‚Liebeskirche‘ […] sind tatsächlich keine Alternativen, aber sie konstituieren einen realen Kontrast.“ D’accord. Sind sie jedoch keine Alternativen, überzeugt die Rede von der „Priorität der Pastoral“ nicht. Recht und Pastoral sind keine gleichgelagerten Kategorien, stehen in keinem Konkurrenzverhältnis. Daher kann man sie einander nicht über- oder unterordnen (wenn ich auch nicht bestreite, dass das geschieht). Pastoral ist, wie Bucher bestimmt, der primäre Auftrag von Kirche, der Liebe Gottes zu den Menschen konkreten Ausdruck zu geben. Das Recht ist Bedingung der Möglichkeit dieses Handelns als Gemeinschaft. Dass das geltende Recht diesbezüglich reformbedürftig ist, keine Frage. Die Kur kann jedoch nicht sein, die Pastoral dem Recht vorzuordnen, sondern das Recht so zu reformieren, dass es integrierend wirkt.

      In diesem Licht deute ich Fußnote 351 in Amoris laetitia. Dass sich eine Aussage mit Rechtsrelevanz in einer Fußnote findet, signalisiert nicht, dass das Kirchenrecht unter Franziskus auf einem der Pastoral nachgeordneten Posten zu finden ist. Die im Text des Schreibens erfolgende Bezugnahme auf Gläubige, „die in ‚irregulären‘ Situationen leben“ (Amoris laetitia Nr. 305), intoniert ja gezielt das Juridische. Es geht darum, einen pastoral verantwortbaren Umgang mit Irregularität zu finden – nicht gegen, sondern mit dem Recht. Fußnote 351 untergräbt nicht das Recht, sondern dient als dessen Interpretationshilfe.

      Die Pastoral ist nicht dem Recht vorzuordnen, sondern das Recht so zu reformieren, dass es integrierend wirkt.

      Recht ist deutungsoffen. Die Deutung des für die Frage der Kommunionzulassung einschlägigen c. 915 CIC/1983 ist seit Jahren umkämpft. In der Norm heißt es: „Zur heiligen Kommunion dürfen nicht zugelassen werden […] andere, die hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren.“ Es gibt Stimmen, die diese Norm auf die Situation wiederverheirateter Geschiedener für durchgängig anwendbar halten, und Stimmen, die dies verneinen (vgl. Lüdicke). Franziskus bietet eine vermittelnde Auslegung an. Seine Fußnote klärt, wie man das Recht anwenden sollte: differenziert, situativ, an praktischen Konsequenzen orientiert.

      Die Fußnote greift also nicht das Recht an, sondern legt es aus. Die Norm bleibt, ihre Auslegung verändert sich. Diese Methode, einen Rechtswandel durch Interpretation zu erzeugen, ist ein Klassiker kirchenrechtlicher (wie jüdisch-rechtlicher und islamischer) Rechtsentwicklung und erkennbar einer „Hermeneutik der Kontinuität“ verpflichtet. Auch Franziskus agiert in diesem Sinne traditionell. Er entwickelt das Recht weiter, jedoch nicht durch Normveränderung, sondern auf dem Weg von Interpretation. Die Rechtsnorm kann bleiben, weil sie sich inhaltlich als anpassungsfähig erweist. Franziskus‘ Politik ist daher gerade keine Abwertung des Rechts. Ich verstehe sein Pontifikat nicht als „Umkehr der Relevanzhierarchie von Pastoral und Recht“, sondern als Versuch, pastorale Anliegen zum Auslegungsmaßstab des Rechts zu machen. Ob das ein gelungener Ansatz ist, ist andernorts zu diskutieren. Festzuhalten ist an dieser Stelle, so meine ich, dass die Frage, ob eine Reform der Kirche und ihres Rechts gelingt, sich nicht an Hierarchisierungen entscheidet, sondern daran, ob die Kirche ihre rechtlich integrierte Sozialgestalt aus der Vormoderne in die Moderne zu tragen vermag.

      LITERATUR

      Böckenförde, Werner, Statement aus der Sicht eines Kirchenrechtlers auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen zum Thema „Der Glaubenssinn des Gottesvolkes“, in: Lüdecke, Norbert/Bier, Georg (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche. Gedenkschrift für Werner Böckenförde (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 37), Würzburg 2006, 161 – 166.

      Loick, Daniel, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2212), Berlin 2017.

      Lüdecke, Norbert, War es wirklich eine Revolution? Contra, in: Die Zeit vom 11. Okt. 2012, Nr. 42, 64.

      Ders., Der Codex Iuris Canonici als authentische Rezeption des Zweiten Vatikanums. Statement aus kanonistischer Sicht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 26 (2007) „Vierzig Jahre II. Vatikanisches Konzil“, 47 – 69.

      Lüdicke, Klaus, Wieso eigentlich Barmherzigkeit? Die wiederverheirateten Geschiedenen und der Sakramentenempfang, in: Herder Korrespondenz 66 (7/2012) 335 – 340.

      Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984.

      Ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970) 175 – 202.

      Noch ziemlich rücksichtsvoll

      Judith Hahns informativer Beitrag will Wege aufzeigen, wie das Verhältnis von Pastoral und Kirchenrecht jenseits von banaler Harmonie und destruktivem Kontrast kreativ werden könnte. Darin treffen sich unsere Optionen. Dass jedes Recht, auch das Kirchenrecht, kulturell kontext- und seine Geltung rezeptionsabhängig ist, dass eine spezifische Differenz zwischen Recht und Kultur tendenziell immer besteht, freilich in einem dynamischen Prozess stets klein gehalten werden muss, dass in einer globalisierten Zivilisation komplexe, wechselseitige Prozesse des Kulturaustausches notwendig sind, ja eigentlich immer stattfinden: aus pastoraltheologischer Perspektive sind dies kulturwissenschaftliche Kontextualisierungen und Relativierungen des Kirchenrechts, die lange vermisst wurden. Ganz besonders zustimmungsfähig aber ist die Feststellung, dass ein „Gesetzgeber, der ein Bemühen, den kulturellen Rückstand des Rechts zu schließen, als ‚Relativismus‘ deutet […] das Recht an seine Relevanzgrenzen [bringt].“ Wie wahr!

      Drei kritische Rückfragen scheinen mir freilich mit Blick auf das Ganze des Textes von Kollegin Hahn und spezifische Leerstellen sowie die grundsätzliche Problematik eines bereits an seine Relevanzgrenzen gestoßenen real existierenden Kirchenrechts möglich und naheliegend.

      „Der kulturelle Rückstand kirchlicher Normen ist […] nicht als solcher ein Problem. Problematisch wird die Distanz zwischen Recht und Kultur aber dann, wenn das Recht sich nicht bemüht, die Kultur einzuholen“, schreibt Judith Hahn. Letzteres ist natürlich richtig, der erste Teil der Feststellung aber problematisch. Denn der kulturelle Rückstand kirchlicher Normen wird auch als solcher zum Problem, wenn er so eklatant ist, dass er Recht – wie in dessen Folge leider dann auch die Pastoral – massiv entplausibilisiert. Und umgekehrt: Aufholbemühungen, die weit hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre, um die plausibilitätsund legitimitätsdestruktiven Effekte dieses Rückstandes abzubauen, wirken selbst eher kontraproduktiv. Aktuell sehe ich kaum Ansätze zur Änderung dieser fatalen Konstellation.

      Es scheint mir generell nicht wirklich möglich, auf der Basis korrekter allgemeiner Feststellungen – etwa, dass das Recht „immer knapp an dem vorbeiläuft, was Menschen meinen und tun“ – dem konkreten Kirchenrecht in seinen realen Defiziten eine relative Entschuldigung zu gewähren oder mit der Feststellung, das Kirchenrecht sei „nicht ausnahmslos gut, wie es ist, aber es ist gut, dass es ist“, seine gravierenden Mängel zu überspielen. Quantitative Defizite können in kategoriales Versagen umschlagen.

      Exakt 50 Jahre nach 1968 sei zweitens an eine schöne alte Formulierung erinnert: Kollegin Hahn umgeht die Machtfrage. Recht basiert auf Machtbeziehungen und konstituiert sie. Das festzustellen ist nicht weiter originell. Es ist aber schwierig und braucht viel Originalität und Kreativität, und es stellt eben die Machtfrage, will man die Rechtsordnung weiterentwickeln. Die von Judith Hahn erhofften Prozesse eines kulturell induzierten Fortschritts des Kirchenrechts geschehen nicht automatisch, sondern sind zuletzt eben doch das Resultat von machtgestützten Entscheidungen. Die Machtfrage stellen heißt also zu fragen:

      Wer ist für das Kirchenrecht verantwortlich? Wer hat die Macht, es zu ändern? Und wer tut es warum (nicht)?

      Drittens: Das Spezifische des Kirchenrechts als eines Rechts der Kirche als Volk Gottes finde ich in Kollegin Hahns Text nicht wirklich benannt. Judith Hahn diskutiert das Kirchenrecht und seine mögliche Weiterentwicklung im Kontext aktueller kulturwissenschaftlicher Fragestellungen des


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