Lebendige Seelsorge 3/2019. Verlag Echter
wird, wenn er für seinen Umgang mit Missbrauchsfällen befragt und kritisiert wird. Wer sich für das eigene Fehlverhalten schämt, wird diese Scham erst wieder los, wenn er/sie dieses Fehlverhalten – oder das eines Vorgängers – zugibt und korrigiert.
Doris Reisinger
geb. 1983, Theologin und Philosophin; ehemaliges Mitglied der Geistlichen Familie „Das Werk“; Verfasserin der Autobiographie „Nicht mehr ich – die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“ (2014).
Trotz aller Beteuerungen und aller schon gegangenen anerkennenswerten kleinen Schritte lässt diese Einsicht und Korrektur nach wie vor auf sich warten. Stattdessen werden ständig weitere Details bekannt, neue Dimensionen des Missbrauchs deutlich, folgen weitere Entschuldigungen und Beteuerungen. Das hat auch zur Folge, dass die Scham unerträglich wird.
AUSWEG VERGEBUNG?
In dieser Situation erhofft sich mancher einen Ausweg durch Vergebung. Bisweilen wird das offen ausgesprochen, immerfort klingt es an, wenn kirchliche Verantwortungsträger um Verständnis werben: Es wäre eine andere Zeit gewesen damals. Man hätte solche Taten niemals für möglich gehalten und folglich allzu lange übersehen, man hätte auch noch nicht gewusst, welch tragischen Folgen diese Taten haben, man wäre an Geheimhaltungspflichten gebunden gewesen etc. etc. Subtext: Bitte klagt uns nicht an, habt Verständnis, seht es uns nach. Mit anderen Worten: Vergebt uns. Und darin die Hoffnung: Dann wird alles wieder gut und wir alle haben endlich wieder Frieden. Dieser Druck kommt zuweilen auch von wohlmeinenden Gläubigen oder sogar von Seelsorgenden und Angehörigen. Er kommt auf subtile Weise auch von Menschen, die auf einer sehr grundlegenden Ebene tatsächlich verstanden haben, was Missbrauch ist, und die deshalb meinen, auch die Täter seien Opfer des Systems Kirche geworden und müssten Vergebung erfahren. In diese Richtung gehen unter anderem Äußerungen Eugen Drewermanns, die er zuletzt in einem Interview mit Christiane Florin gemacht hat:
Drewermann: Ich kenne keinen Priester und ich behaupte, es gibt auch keinen, der sich weihen lässt in der Absicht, später solche Handlungen zu begehen. Das passiert. Das ist eine Tragödie, die sich lange vorbereitet. […] Da ist etwas lange unterdrückt worden. Das wurde mit heiligen Vokabeln, mit Askese, mit allen möglichen Transformationsprozessen die Sublimation aus dem Triebbereich ins Geistige verlagert. Das wurde rationalisiert. Man war auf der Flucht vor sich selber und konnte nicht wissen, dass all das, hinterherlaufend wie ein Schatten, irgendwann den Flüchtling einholen würde. Es wartet förmlich auf eine Gelegenheit, jemandem zu begegnen, der genauso hilflos ist, wie der Betreffende, der dann handelt […].
Florin: Aber, wenn Sie sagen, Tragödie, Leiden, damit machen Sie auch die Täter zu Opfern.
Drewermann: Absolut. Und das meine ich jetzt in vollem Ernst. […] Wir unterstellen praktischerweise auch, dass die Menschen frei sind. Und, wenn sie wissen, was Gut und Böse ist und tun trotzdem das Böse, in Freiheit, wie wir annehmen, sind sie zu bestrafen. Und je schlimmer das Vergehen, desto strenger. Das ganze bürgerliche Bewusstsein ist darauf aufgebaut. Das Christentum denkt vollkommen anders. Auch die Botschaft Jesu ist eine völlig andere. Die Menschen, die Böses tun, sind nicht böse. Sie wollen das nicht. Sie sind im Grunde wie Verlorene, Verlaufene, Verzweifelte. Und wie geht man sie jetzt suchen, um sie zurückzuholen? Das wäre die Aufgabe, aber nicht den Stab über sie zu brechen oder auf sie draufzuhauen. (Deutschlandfunk).
Diese Worte Drewermanns machen deutlich, dass hinter dem mehr oder weniger subtil geäußerten Wunsch, den Tätern und der Institution solle vergeben werden, noch viel mehr steckt als die unreflektierte Sehnsucht nach Entlastung und Frieden. Dahinter steckt ein, wenn nicht gar das Grundmotiv des Christentums: Erlösung durch Vergebung. Das macht es für die Opfer umso schwerer, denn die Verantwortung, die ihnen aufgebürdet wird, wenn man sich wünscht, dass sie vergeben sollen, ist damit nicht nur im Bereich der zwischenmenschlichen Streitbeilegung angesiedelt, sondern im Bereich der übernatürlichen Erlösung.
ERLÖSUNG DURCH VERGEBUNG?
Wer sich in der katholischen Kirche als Opfer outet, hat es schwer. Denn dafür, was Opfersein bedeutet und wie Opfer sich zu verhalten haben, gibt es im Katholizismus ein unerreichbares Vorbild: Jesus, das vollkommene Opfer, das Opfer schlechthin. Die neutestamentlichen Berichte über sein Leiden und Sterben haben das Opfernarrativ, das in westlichen Kulturkreisen gepflegt wird, maßgeblich geprägt. Dieses Narrativ verlangt, dass Opfer immer unschuldig sind, dass sie schweigen, sich nicht beklagen, das ihnen angetane Unrecht vergeben, es dadurch sühnen und somit das Heil in der Gemeinschaft wiederherstellen. Opfer, die sich anders verhalten, stoßen entsprechend auf Unverständnis. Dabei wäre ein ganz anderes Verhalten so viel nachvollziehbarer und verständlicher – und vermutlich auch aus psychologischer Sicht gesünder: Anklagen. Laut werden. Keine Ruhe geben. Forderungen stellen statt vergeben. Mit anderen Worten: Sich von Tätern und ihren Unterstützern abgrenzen, statt sich von ihnen Regeln diktieren zu lassen oder um ihren Seelenfrieden besorgt zu sein.
Weil sich uns katholisch geprägten Menschen dieses Narrativ gleichsam eingefleischt hat, sind wir, wenn es um die Frage nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit der Vergebung von Kindesmissbrauch geht, hin und hergerissen: Als empathisch Empfindende wollen wir einerseits Opfern Wut auf ihre Täter und auf die Täterorganisation Kirche zugestehen. Als Katholiken wollen wir aber andererseits an das Vergebungs-Erlösungsnarrativ glauben.
Natürlich – würden wir sagen –, Betroffene sind völlig zu Recht wütend! Aber – würden wir ebenso, zögerlich vortastend, versuchen –, wird der Circulus vitiosus des Bösen nicht eben gerade durch großherziges Vergeben durchbrochen? Solange Menschen, denen Böses angetan wurde, es ihren Täter heimzahlen wollen, solange sie übersehen, dass diejenigen, die ihnen Böses angetan haben, selbst blind und stumpf geworden sind vom Schmerz ihrer eigenen Wunden, sodass sie diesen Schmerz wiederum anderen zufügen, solange das immer so weiter geht, bleiben wir da nicht alle im Hass gefangen? Ist das nicht das Tragische – und wo Vergebung gelingt, gerade das Wunderbare –, dass es deswegen eben gerade die Opfer sind, von denen die Erlösung kommt, kommen muss? Die Opfer, die die Kraft zur Vergebung aufbringen?
Natürlich, höre ich schon den ein oder anderen eifrig hinzufügen, das kann man von niemandem verlangen. Die Vergebung solcher Verbrechen ist fraglos eine supererogatorische Tat, etwas, das von niemandem gefordert werden kann, gerade wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht – aber diese Vergebung ist doch auch etwas, was manche bewundernswerte Menschen fertigbringen, oder? Kann man also sagen: „Wo das Böse eingedämmt werden muss, muss einer über Gebühr lieben, andernfalls droht die Rache die Welt zu überschwemmen und zu ersticken“ (Papst Franziskus). – Was dann, wenn es um Missbrauch geht, in den Ohren der Betroffenen als absurder Fehlschluss heißen würde: „Ihr müsst vergeben, sonst hört das Böse nie auf“?
DIE UNMÖGLICHE VERGEBUNG
Wer so denkt, übersieht mindestens zweierlei: Erstens übersieht er, dass eben dieses Leidens-Vergebungs-Erlösungs-Narrativ nicht selten Bestandteil katholisch schmeckender Täter- und Vertuschungsstrategien ist. Täter manipulieren ihre Opfer, indem sie sie glauben machen, das Leid, das sie ihnen zufügen, wäre notwendig zur Sühne einer von ihnen begangenen Sünde. Sie manipulieren ihre Opfer, indem sie sich als Stellvertreter des Erlösers präsentieren und vermeintliche Gnaden austeilen oder vermeintliche Sünden vergeben. Vertuscher manipulieren Opfer, indem sie sie glauben machen, eine moralische Pflicht zum Schweigen zu haben, durch das die Kirche geschützt werde.
Beispielsweise habe der Bischof Henri Bricard zu der Betroffenen Marie-Laure Janssens gesagt: „Das Schweigen der Kirche ist ein Akt der Barmherzigkeit gegenüber Menschen. Schweigen ist keine Furcht vor der Wahrheit, wenn dieses Schweigen das Zeichen von Selbsthingabe ist, die Sprache des Dienens, wie die Jungfrau Maria sie uns gelehrt hat“ (Global Sisters Report, Übers. DR). Das heißt, wer tatsächlich glaubt, Vergebung wäre ein wünschenswerter Ausweg aus der Krise, wer das gar gegenüber Betroffenen in irgendeiner Weise zum Ausdruck bringt, bohrt in eben jener Wunde, die er heilen zu wollen vorgibt.
Wer Vergebung für einen Ausweg hält, übersieht aber auch etwas Anderes: Diese Vergebung ist schlicht und einfach logisch betrachtet gar nicht möglich. Denn Vergebung setzt Anerkennung persönlicher Schuld voraus. Solange es aber an