Lebendige Seelsorge 3/2019. Verlag Echter
Zuflucht zu Betroffenen, von denen sie sich Einsichten und Weisheiten erhoffen. Nicht selten werden Betroffene sogar als moralische Instanzen verehrt, wenn ihnen nicht – aus Befremdung oder Überforderung – der Rücken gekehrt wird. Von daher stimmt es, dass die Begegnungen zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen oft strange sind.
Allein, das ist ein Armutszeugnis, denn von ihrem Wesen her müssen und dürften sie gerade keine strange encounters sein. Betroffene sind wirklich keine aliens. Sie sind weder besonders zerbrechlich, noch besonders anrüchig, noch besonders heilig, noch besonders weise. Sie sind auch keine extremen Einzelfälle, sondern es gibt sie in jeder Pfarrei und in jedem kirchlichen Verband. Sie sind Menschen wie andere auch, untereinander sehr verschieden und sehr „normal“. Nicht einmal ihre Erfahrung sexueller Gewalt und ihre Traumata unterscheidet sie so stark von anderen Menschen in der Kirche, wie manche zu glauben scheinen. Denn Opfer von Gewalt gibt es viele in dieser Kirche, in deren Verfassungsstruktur der Missbrauch von Macht tendenziell grundgelegt ist, weil sie keine demokratische Kontrolle, keine Gewaltenteilung, kein wirklich unabhängiges Denken und keine unabhängige Aufarbeitung ihrer eigenen Verbrechen kennt.
Die Geschichten der Betroffenen veranschaulichen das Scheitern eines komplexitätsreduzierten idealisierten Kirchen-, Wahrheits- und Gottesglaubens.
Betroffene werden die Kirche nicht retten. Sie müssen es auch nicht. Sie müssen es am wenigsten von allen. Sie werden die widersprüchlichen und bisweilen überhöhten Erwart ungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen können, und brauchen das auch nicht. Es gibt nur Eines, genau Eines, was Betroffene zur Bewältigung der aktuellen Krise beitragen: Ihre Geschichten veranschaulichen das Scheitern eines komplexitätsreduzierten idealisierten Kirchen-, Wahrheits- und Gottesglaubens, wie kein abstrakter theologischer Diskurs das jemals fertigbringen würde. Diese Geschichten zeigen, wohin das beharrliche Festklammern an einer vermeintlich heilen Kirchenwelt im Extremfall führt. Die politischen, verfassungsrechtlichen und theologischen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis haben andere zu ziehen. Solange sie nicht handeln, werden die Geschichten der Opfer als unüberhörbare Anklage im Raum stehen bleiben.
LITERATUR
Kepel, Gilles, Die Rache Gottes – La revanche de Dieu. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 2001.
Lenaers, Roger, Der Traum des Königs Nebukadnezar. Das Ende einer mittelalterlichen Kirche, Kleve 2005.
Verteidiger des Glaubens. Christoph Röhl. D 2019. Christoph Röhls Film „Verteidiger des Glaubens“ kommt im Herbst in die deutschen Kinos.
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