Lebendige Seelsorge 3/2019. Verlag Echter

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hat die Identitätsmatrix dieser neuzeitlich-modernen Proklamation zum Staat, was societas perfecta nun einmal bedeutet, weder bestätigt noch übernommen. Aber es hat mit sich machen lassen, dass die Selbstverstaatlichung den kirchlichen Machtanspruch nicht auflösen musste, wie die Notae praevia zu Lumen gentium belegen.

      Das war ein Fehler, der sich in den Skandalen des sexuellen Missbrauchs bitter rächt. Er ist nicht von außen ausgelöst, er konnte sich vielmehr deshalb mitten in der Kirche ausbreiten, weil er an der Phobie ihrer Eigenstaatlichkeit kapitalisieren konnte. Denn um der Erhaltung ihrer Macht willen darf nur das sichtbar werden, was für Kirche spricht, während alles, was gegen sie spricht, ebenso verschämt wie schamlos zu verheimlichen ist. Zugleich ist nichts in diesem Anspruch vorhanden, was für die Bewältigung dieser innerkirchlichen Verletzungen von Menschenrechten benötigt wird: weltliches Strafrecht, kritische Öffentlichkeit, unabhängige Erforschung der Personalakten und nicht zuletzt der riskante Bruch von Verschwiegenheitsversprechen, die kirchliche Repräsentanten mit Opfern des Missbrauchs vereinbart haben. Ohne das werden weder die gewaltigen Ausmaße des Problems sichtbar, noch ist der Anfang eines Anfangs zu setzen, über die Demütigung hinauszukommen.

      Die Kirche benötigt daher eine andere Souveränität als die utopische Selbstverheiligung, welche die Grammatik ihrer Identitätspolitik seit Johannes Paul II. ausmachte. Sie kann sich dabei nicht zuletzt an der unheiligen Trinität der dreifachen Scham orientieren, aus der ihr sexueller Missbrauch besteht. Weder die Unverschämtheit der Täter noch die Schamlosigkeit der Vertuscher helfen, den selbstbezogenen Relationen ihrer Selbstverstaatlichung zu entkommen, mit denen sie niemals über Scheinheiligkeit hinwegkommt. Es bleibt ihr aber die Scham der Opfer, die es den Betroffenen entsetzlich schwermacht, die erlittene sexualisierte Gewalt überhaupt zur Sprache zu bringen.

      Die Kirche benötigt eine andere Souveränität als die utopische Selbstverheiligung.

      Dort aber, wo das dennoch geschieht, sprechen Subalterne in einer Weise, die erst bei einer gedemütigten Souveränität der Kirche zu Wort kommt. Dann öffnen sie Kontaktzonen zu dem, was in einem doppelten Sinn des Wortes unerhört ist und mit Sara Ahmed „strange encounters“ genannt werden kann: eine befremdliche Begegnung unter der Voraussetzung der „absence of a knowledgde that would allow one to control the encounter, or to predict its outcome“ (Ahmed, 8).

      Die Opfer des Missbrauchs sind für die Kirche keine aliens, gefährliche Fremde aus anderen Welten, gegen deren verwundete körperliche Präsenz allein klare Kanten katholischer Disziplin helfen. Sie sind vielmehr befremdlich andere, die die Kirche aber verführt hat, sich auf Kirche zu ihrem Schaden einzulassen, und deren körperliche Präsenz deshalb daran erinnert, wie weit Kirche selbst von dem entfernt ist, wozu sie eigentlich da ist – Menschen den Himmel aufzuschließen.

      Diese Lücke kann sie erst dann verkleinern, wenn sie sich darauf einlässt, dass es jenseits ihrer Kontrolle ist, die Lücke hinter sich zu lassen. Denn der Schlüssel ist nicht mehr in ihrem Besitz, sondern im sexuellen Missbrauch verloren gegangen. In strange encounters mit Betroffenen kann sie erfahren, wo nach ihm zu suchen wäre. Sie haben den Schlüssel nicht versteckt, aber sie wissen, wo er sicher nicht zu finden ist: in Unverschämtheit und Schamlosigkeit von Missbrauchen und Vertuschen. Erst wenn die Ohnmacht der Scham geteilt wird, die Betroffenen ins Leben ragt, und ihnen von der Kirche sichtbar geglaubt wird, wird ein Raum geöffnet, ihn wieder zu erhalten.

      LITERATUR

      Ahmed, Sarah, Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London 2000.

      Kepel, Gilles, Die Rache Gottes – La revanche de Dieu. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 2001.

      Papst Franziskus, Ansprache am Ende des Treffens „Der Schutz von Minderjährigen in der Kirche“, Sala Regia, Sonntag, 24. Februar 2019 (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2019/february/documents/papa-francesco_20190224_incontro-protezioneminorichiusura.html).

      Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Engl. von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, Wien 2008.

      Die zentrale Erkenntnis aus den Geschichten Betroffener

      Die Replik von Doris Reisinger auf Hans-Joachim Sander

      Wer sich in einer Krise befindet, neigt zur Blickfeldverengung. Die Gedanken und Diskussionen drehen sich im Kreis um die eigene Misere. Das ist nicht nur zermürbend, sondern auch fruchtlos. Von daher ist es ebenso erfrischend wie erhellend, die sich im Grunde seit Jahrzehnten kontinuierlich zuspitzende Kirchenkrise in große geschichtliche Kontexte zu stellen. Wenn man sie parallel zu Entwicklungen sieht, die ähnlich aufgebaute Institutionen und Gemeinschaften in der Moderne erleben, dann sieht man, dass wir in Teilen der katholischen Kirche eine religiöse Radikalisierungsbewegung erleben, die es in den vergangenen Jahrzehnten bis heute so ähnlich auch in protestantischen Konfessionen, im Islam und im orthodoxen Judentum gibt, und die im Kern aus einer Abgrenzung anfangs kleiner fanatischer Splittergruppen von Liberalisierungsbewegungen innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft bestehen. Diese Parallele nimmt der von Sander zitierte französische Soziologe Gilles Kepel in den Blick.

      Oder man sieht, dass diese moderne Entwicklung, die religiöse Extremisten so sehr beunruhigt – gerade auch im Katholizismus –, die aber der überwiegende Teil der Gläubigen mit großer Selbstverständlichkeit und Überzeugung vollzieht, schlicht ein in der Aufklärung grundgelegter und im besten Sinne vernünftiger Wandel weg von einem heteronomen hin zu einem autonomen Denken ist, wie ihn der Philosoph Roger Lenaers beschreibt.

      Nicht zuletzt treten politische Parallelen hervor, wenn man die katholische Kirche mit anderen absolutistischen Herrschaftssystemen vergleicht, die in Europa vor nicht allzu langer Zeit existiert haben, die aber parlamentarischen, demokratischen Systemen weichen mussten. Diese Parallele zieht der amerikanische Kirchenrechtler und Whistleblower der ersten Stunde, Tom Doyle, in einem Interview in dem sehr sehenswerten Film „Verteidiger des Glaubens“.

      Man könnte diesen letzten Gedanken noch weiterspinnen und eine weitere Parallele ziehen, nämlich die zu der in jüngster Zeit lauter werdenden Weltsicht, die gemeinhin als Rechtspopulismus oder Nationalismus bezeichnet wird. Diese Strömungen sind auf ihre Weise Abgrenzungen von Liberalisierungsentwicklungen der Mehrheitsgesellschaften und eine Rückkehr zu heteronomen, absolutistischen Denkmustern, die einer Logik von Über- und Unterordnung und vom Recht des Stärkeren huldigen. Ihr paradigmatisches Gesicht ist das des US-amerikanischen Präsidenten. Unter seinen Verehrern finden sich auch Mitglieder eines fundamentalistischen Katholizismus, deren Anteil unter den katholischen Gläubigen in den USA mittlerweile im Übrigen deutlich über dem Promillebereich liegen dürfte.

      Wenn man, wie Hans-Joachim Sander, diesen Schritt zurückgeht und das große Bild in den Blick nimmt, wird zweierlei deutlich, was ich hier schlicht nochmals bekräftigen und unterstreichen möchte. Erstens spricht das Hoffen auf den Papst als Reformer gegen die überwältigende Evidenz, die sich nicht nur aus historischen Vergleichen und anderen Parallelen, sondern längst auch aus der Bilanz seiner bisherigen Amtsführung ergibt. Absolutistische Systeme wurden und werden aller Erfahrung nach nicht durch den Monarchen an der Spitze reformiert, gleich wie menschennah und liberal er sich auch inszenieren mag. Zweitens tritt klar zutage, dass es in der aktuellen Kirchenkrise nicht bloß um eine Nachjustierung einzelner sexualmoralischer oder verfassungsrechtlicher Bestimmungen geht, nicht um rein moralische oder kirchenpolitische Diskurse, also „nicht bloß darum, wie Kirche gestaltet werden muss, sondern ob sie erhalten werden kann.“

      In der aktuellen Kirchenkrise geht es nicht bloß um eine Nachjustierung einzelner Bestimmungen.

      Dabei ist durch den Missbrauchsskandal eines endgültig klar geworden: Die Macht des Stärkeren, der Versuch, vermeintliche Wahrheit mit Gewalt durchzusetzen, das starrsinnige Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse und die beharrliche Abwertung moderner freiheitlicher Denkweisen und Lebensvollzüge, ist moralisch auf voller Linie gescheitert. Durch diese Politik ist die Kirche nicht gestärkt,


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