Lebendige Seelsorge 3/2019. Verlag Echter
habil., seit 2002 Universitätsprofessor für Dogmatik an der Universität Salzburg; aktuelle Publikation: „Glaubensräume.
Topologische Dogmatik (Bd.1: Glaubensräumen nachgehen)“ (2019).
Das belegt jene Diktatur des Relativismus, von der Benedikt XVI. so überzeugt am Vorabend des Konklaves sprach, das ihn wählte. Aber auch dieser Sinn erweist sich ganz anders als eigentlich intendiert. Diese Diktatur fand innerhalb der Kirche statt, getragen von Mitgliedern ihrer Hierarchie. Alle Missbrauchsberichte bisher geben von einem „circle of secrecy“ beredtes Zeugnis, wie der Bericht der Grand Jury für Pennsylvania diesen Relativismus nennt. Über Jahrzehnte hat die Kirche die Peinlichkeit einer Tat für sie selbst höher bewertet als die Pein der Betroffenen durch die Tat.
In der Skandalisierung der Bigotterie zeigt sich:
Die Wahrheitsansprüche über Sexualität blieben außerhalb der katholischen Welt bedeutungslos, innerhalb sinnlos.
Daran ändert auch der peinliche revanchistische Text nichts, den Joseph Ratzinger als Altbischof von Rom kürzlich veröffentlichte, um die Kirche selbst in die Taxonomie der Opfer einzureihen und stattdessen eine promiske 68er Generation, missliebige autonome Moraltheologen sowie Priesterseminare, die seit den 1970er Jahren angeblich seine Theologie ausgrenzten, als Verursacher des Missbrauchs zu beschuldigen. Allerdings springen zu deutlich die Selbstentschuldigung eines an hoher Stelle Verantwortlichen, der Verklärungshabitus eines vergangenen Zeiten nachtrauernden Theologen und ein hämisches Ressentiment über tote Erzfeinde ins Auge. Die Mehrheit der Gläubigen wird sich davon nicht Sand in die Augen streuen lassen. Mit der Komplexität ihrer Beschämung durch den sexuellen Missbrauch bleiben die Gläubigen weltweit allein.
Menschen haben nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken. Das gilt auch für die genannten Päpste, ihre Pontifikate und jene geistlichen Gemeinschaften, die deren Identitätspolitik in die Tat umsetzen wollten. Es wäre vermessen, ihnen jegliche Stärke zu bestreiten. Ebenso ist offenkundig, dass die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch nicht dazu gehört. Und leider sieht es derzeit nicht danach aus, dass sich das nicht ins Pontifikat von Franziskus verlängert.
NACH DEM SPÄTSOMMER DES ERNEUERTEN PAPSTTUMS
Seine Abschlussrede zur großen Missbrauchskonferenz im Vatikan war nicht geeignet, hinreichend zu respektieren, wie wenig die Opfer des jahrzehntelangen Missbrauchs jetzt noch jene Kinder sind, denen sich die Kirche peinlich berührt, was diesen geschah, mit altväterlichem Gestus zuwendet. Vom patriarchalen Habitus einer Kirche über „das Herzstück ihrer Mission“ beherrscht, „das Evangelium den Kleinen zu verkünden und sie vor den reißenden Wölfen zu schützen“ (Papst Franziskus), übersieht die Ansprache, dass aus missbrauchten Kindern längst erwachsene Betroffene sexualisierter Gewalt geworden sind, die außerhalb der Aula unerhört mit ihren Anliegen stehen blieben. Für das, was sie nicht nur zu sagen, sondern worüber sie die Kirche zu belehren hätten, hat Papst Franziskus bisher keine Augenhöhe erreicht, obwohl er seit seinem verunglückten Chile-Besuch dazugelernt hat. Auch hier muss ich differenzieren. Der gegenwärtige Papst hat erreicht, dass die Verantwortlichen in keiner Region der Weltkirche mehr abzustreiten wagen, vom sexuellen Missbrauch getroffen zu sein. Das ist durchaus eine kirchliche Leistung. Aber sie ist unter vernünftigen Maßstäben nicht sehr groß, weil man das schon vorher wusste. Jedes Bestreiten, dass kirchliche Führungsclubs, sich erhaben wähnend, dem Missbrauch Vorschub leisteten, und alles Belehren, das eigentliche Problem wären die permissive Gesellschaft und diese dann mit gelebter Homosexualität abnickenden Klerikerkreise, trifft deshalb längst auf ein Kopfschütteln, das sich noch nicht einmal mehr empört.
Eine unzeitgemäße Identitätspolitik kann sich die katholische Kirche angesichts der Massivität des Missbrauchs nicht mehr leisten. Die Politik der Revanche verschärft nur eine beredte Sprachlosigkeit. Selbst binnenkirchliche Beflissenheit, wieder Herrin der Lage zu werden, und beschämte Entschuldigungen, es diesmal wirklich anzugehen, genügen nicht mehr. Der Worte, die vom Goldstandard konkreten Handelns nicht gedeckt sind, gab es seit den spotlight-Enthüllungen von 2002 in Boston mehr als genug. Das Mauern des gegenwärtigen Papstes gegen radikale und sehr schmerzliche Veränderungen in der Kirche, das er von seinen Vorgängern übernommen hat, steht daher wenig überzeugend im Raum. Es wird auch seine außerkirchliche Reputation zunehmend mit Mehltau überziehen.
Eine unzeitgemäße Identitätspolitik kann sich die katholische Kirche nicht mehr leisten. Die Politik der Revanche verschärft nur eine beredte Sprachlosigkeit.
Selbst wenn es den viel beschworenen Machtkampf im Kardinalskollegium sowie mit der eigenen Kurie tatsächlich gäbe, ist nicht einsehbar, warum Papst Franziskus das auf einer Position, die mittlerweile 47% der künftigen Päpstwähler selbst ernannt hat, obendrein mit Infallibilität und Jurisdiktionsprimat ausgestattet ist, nicht zur Entscheidung bringen könnte. Und wenn er schwerwiegende Folgen eines primatialen Machtwortes fürchtete, stehen als Alternative mehr als genügend kollegiale Sonderorgane wie Synoden und Konzil zur Verfügung. Klar ist bisher lediglich, dass es so nicht weitergeht. Unklar bleibt aber, ob die nötige Selbstrelativierung überhaupt erreicht ist, damit es weitergeht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass wir in den ersten Jahren des Franziskus-Pontifikats lediglich den Spätsommer eines globalisierten erneuerten Papsttums erlebt haben, dessen Blätter in den kalten schwarzen Nächten des kirchlichen sexuellen Missbrauchs jetzt sichtbar abfallen. Die grundkatholische Einstellung, dass der Papst es schon richten wird, wenn es richtig eng wird, und dass wir einfachen Gläubigen nur Geduld haben müssen, erweist sich bestenfalls als Utopie. Wahrscheinlich aber handelt es sich um eine Illusion und man muss nüchtern konstatieren: Jenes Papsttum, das seine Erneuerung in der globalisierten Welt an eine Identitätspolitik nach innen gekoppelt hat, ist offenbar von der Komplexität des Problems nach innen und außen überfordert. Es kann das allein auch gar nicht schaffen und steht händeringend im größten Glaubwürdigkeitsverlust seit der Reformation. Natürlich hilft dann Gottvertrauen. Aber es ersetzt nicht den Mut zu demütigen Aktionen, um die Kirche von der Absturzkante wegzubringen, an die ihre scheinheilige Identitätspolitik sie manövriert hat.
Natürlich hilft Gottvertrauen – aber es ersetzt nicht den Mut zu demütigen Aktionen.
SUBALTERN UND DOCH DIE WAHRE ALTERNATIVE
Stampft sie dort mit auftrumpfender Selbstgerechtigkeit auf, ihr könne aufgrund Gottes Beistands nichts passieren, wird sie unversehens über die Kante treten und abstürzen. Erst wenn sie ihre revanchistische Identitätsmatrize opfert, also demütig wird, erschließen sich weiterführende Wege weg von der Kante. Ein Angriffsmodus gegen andere bringt sie nicht gegen eigene Scheinheiligkeit voran. Es genügt daher nicht, sich auf klerikalen Machtmissbrauch zu fokussieren, weil bereits der Machtgebrauch einer sich überlegen fühlenden Identität in das Missbrauchsproblem verstrickt ist. Sie schiebt Opfer dorthin ab, worüber Gayatri Spivak fragt: „Can the subaltern speak?“ (Spivak). Subaltern ist, wer spricht, aber nichts zu sagen hat, was andere erfassen wollen/können, ohne dass diese damit eigene Machtinteressen verbinden. Subalterne werden in der Regel dem geopfert, was diese Interessen nach vorne bringt.
Betroffene sexualisierter Gewalt sind in der Kirche Subalterne. Sie sprechen, aber kommen mit ihren Anliegen nicht zu Wort, obwohl ihr Fall von rechts wie links aufgegriffen wird, also von jenen, die immer schon reformorientiert waren, sowie jenen, die es nicht lassen wollen, bigott zu moralisieren. Beide bringen jeweils ihre längst vorhandene Agenda vor. Was im normalen kirchenpolitischen Streit legitim wäre, verkennt die schwarze Tiefe der Erschütterung. Es geht nicht bloß darum, wie Kirche gestaltet werden muss, sondern ob sie erhalten werden kann.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Nonnen durch priesterliches Führungspersonal ist nicht einfach ein Unfall der Kirchengeschichte, die sich bald wieder in erhabener Reinheit erheben wird. Er ist auch kein Beleg für sattsam bekannte Reformen, so sehr sie längst überfällig sind. Er bringt vielmehr die Souveränität zum Einsturz, an der sich die Selbstidentifizierung dieser Kirche als übernatürlicher Staat aufgehängt hat: „[U]nd – was höchst wichtig ist – sie ist eine ihrer Art und ihrem Recht nach vollkommene Gesellschaft (societas perfecta), da sie die für ihre Erhaltung und Tätigkeit notwendigen Hilfsmittel nach dem Willen und durch die Wohltat ihres Gründers alle in sich und durch sich selbst besitzt“ (Leo