Blutiger Spessart. Günter Huth

Blutiger Spessart - Günter Huth


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aus der Hütte zu decken.

      »Schatz, können wir jetzt frühstücken?«

      Kerner legte die Zeitung zur Seite. Er hatte etwas Mühe, sich gedanklich von den Nachrichten zu lösen. Leicht abwesend griff er sich ein Croissant und begann, es mit Marmelade zu bestreichen. Normalerweise liebte Kerner solche besinnlichen Stunden, in denen er den Berufsalltag vergessen konnte. Heute hatte er jedoch Mühe, in diese entspannte Welt einzutauchen.

      Steffi beobachtete ihn unauffällig. Sie war von Beruf Physiotherapeutin und arbeitete in einer renommierten Orthopädiepraxis in Gemünden. Die juristische Materie war ihr völlig fremd. Eine Eigenschaft, die Kerner an ihr besonders schätzte, weil so nicht die Gefahr bestand, dass sie während ihrer Freizeit beruflich fachsimpelten. Allerdings verfügte die junge Frau über ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, das ihr bei der Behandlung ihrer Patienten half. Zudem war sie dank ihres scharfen Verstandes in der Lage, juristische Sachverhalte auf eine ganz natürliche Weise zu betrachten – was Kerner sehr schätzte.

      »Das ist alles sehr bedrohlich«, nahm sie wieder das Thema auf, das seit gestern ihre Gespräche beherrschte, obwohl sie sich vorgenommen hatten, es heute ruhen zu lassen. Aber sie bemerkte sofort, dass Kerner nicht wirklich abschalten konnte. Vielleicht half es ihm, wenn sie darüber sprachen.

      »Sind die Leute, die hinter diesem Mord stehen, auch für dich gefährlich?« Dieser Gedanke beschäftigte sie schon seit einiger Zeit.

      Kerner schüttelte den Kopf. »Ich denke eher nicht. Die wissen, dass es keinen Sinn hätte, etwas gegen mich zu unternehmen. Wenn ich ausfalle, wird die Sache von einem anderen Staatsanwalt übernommen. Das brächte allenfalls ein paar Wochen Aufschub. Ihre Gewalt richtet sich deshalb auch in erster Linie gegen Zeugen. Wenn die dann nicht mehr aussagen, besteht die Gefahr, dass das ganze Verfahren nicht durchgeführt werden kann. Das ist wesentlich effizienter, als den Staatsanwalt zu töten. Aber eine Sicherheitsgarantie bedeutet das nicht.« Er griff entschlossen nach dem Messer und beschmierte ein Brötchen mit Butter. »Lass es damit gut sein, Liebling, wir wollen uns doch nicht das schöne Wochenende verderben.«

      »Eine Sache noch, weil das uns ganz persönlich betrifft. Du hast dich doch auf die Position des Amtsgerichtsdirektors in Gemünden beworben. Dabei bleibt es aber doch?« Das sollte beiläufig interessiert klingen, man konnte aber deutlich die Spannung heraushören, die diese Frage bei ihr auslöste.

      Kerner legte das Gebäck zur Seite und atmete schwer. »Mein Chef hat das Thema gestern auch schon angesprochen. Nachdem Emolino uns fürs Erste durch die Maschen geschlüpft ist, bleibt uns, bleibt mir, eigentlich nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Man kann da nicht einfach aussteigen.«

      Steffi sah ihn betroffen an. Kerner erwiderte den Blick. »Ich muss mir das alles noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Das ist heute noch zu früh. Du hast dich darauf gefreut, dass wir auch beruflich näher beisammen sind, das weiß ich. Ich doch auch. Aber ich habe eine Verantwortung, auch gegenüber den getöteten Polizisten und ihren Familien. Das ist alles nicht einfach!«

      Sie konnte sehen, wie ihn die Geschichte aufwühlte. Ihr lagen zwar noch viele Fragen auf der Zunge, aber sie entsprach seinem Wunsch und wechselte das Thema. Wie sie ihn kannte, hätte er jetzt sowieso nicht mehr viel dazu gesagt.

      »Schatz, du denkst daran, dass ich heute Nachmittag auf das Fest anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Partensteiner Schützenvereins muss? Mein Vater hat mich gebeten, ihn zu begleiten.«

      Kerner nickte. Seit Steffis Vater Witwer war, übernahm sie gelegentlich die Rolle der weiblichen Begleiterin des Bürgermeisters.

      »Kein Problem, ich hatte für heute Abend sowieso einen Jagdansitz an einem Maisfeld im Revier geplant, das momentan massiv von Wildschweinen heimgesucht wird. Der Bauer hat mich schon zweimal deswegen angerufen. Dort muss mal dringend ein Stück erlegt werden, das vertreibt sie dann wieder für eine Weile.«

      Steffi war als Mädchen vom Land mit den Problemen der Wildschweinschwemme im Spessart bestens vertraut und wusste, dass eine scharfe Bejagung dringend notwendig war. Die schwarzen Rüsselträger konnten in der Landwirtschaft verheerende Schäden anrichten, die dann der Jagdpächter aus der eigenen Tasche bezahlen musste. Dafür gab es keine Versicherung.

      »Prima, dann wirst du mich ja gar nicht vermissen und kommst auch nicht auf dumme Gedanken«, unternahm sie den Versuch, ihn durch Necken etwas abzulenken.

      Kerner lächelte sie an. »Du kleine, blonde Hexe weißt ganz genau, wie sehr ich deine Gesellschaft brauche und genieße. Ganz besonders in Zeiten wie diesen.« Er griff schnell über den Tisch und stupste sie spielerisch mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze.

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      Schwarzwildjagd war Nachtjagd. Die Schwarzkittel, wie die Wildschweine von den Jägern wegen ihrer dunkelhaarigen Schwarte auch genannt werden, waren aufgrund der scharfen Bejagung und zahlloser Störungen durch Freizeitaktivitäten der Menschen fast überall nur noch nachts aktiv. Der Jäger hatte nur eine Chance bei Vollmond, wenn das Licht des Erdtrabanten ausreichte, um mithilfe eines starken Nachtzielfernrohrs einen sicheren Schuss auf seine Beute abgeben zu können.

      Wenn Simon Kerner auf die Jagd ging, war er ein anderer Mensch. Die straff strukturierten Abläufe einer Ermittlungsbehörde, die sich ausschließlich an Gesetzen und Verordnungen zu orientieren hat, verlangten einen Menschen, der auf dieser Klaviatur spielen konnte. Kerner war auf diesem Gebiet ein Virtuose, der mit voller Passion der Verbrechensbekämpfung nachging. Genauso motiviert war er aber auch auf der Jagd. Insgeheim vertrat er die Meinung, dass sich die schwierige Jagd auf das intelligente Schwarzwild nur in Nuancen von der Verfolgung eines Verbrechers unterschied. Nur der meist finale Abschluss der Jagd auf Wildschweine unterschied sich natürlich von dem einer Verbrecherjagd.

      Kerner folgte gegen 22.00 Uhr einem Wiesenweg. Er führte auf der rechten Seite am Waldrand entlang, während sich auf der anderen Seite eine Wiese erstreckte, an die sich wiederum das besagte Maisfeld anschloss. Schließlich gelangte Kerner zu einem Hochsitz, der an einen Dickungsrand gebaut war. Diese mehrere Hektar große Aufforstung befand sich am Fuße einer der zahlreichen bewaldeten Erhebungen, wie sie für den Spessart so typisch sind. Kerner hatte sich umgezogen und trug nun zweckmäßige Outdoorbekleidung. Über der Schulter hing sein großkalibriges Jagdgewehr, auf dem Rücken trug er einen Rucksack mit allerlei Utensilien.

      Von diesem Hochsitz aus hatte man einen ausgezeichneten Blick auf das ungefähr siebzig Meter entfernte Maisfeld, das sich etwa achtzig Meter in der Längenausdehnung an die Grünfläche anschloss. Dieses Maisfeld war seit Tagen der Anziehungspunkt für eine große Rotte Wildschweine, die, wie er wusste, in der Dickung hinter dem Hochsitz ihren Tageseinstand hatten. Mais war für Wildschweine eine Delikatesse, ähnlich wie Kaviar für manche Menschen. Nach den Spuren, die Kerner schon seit Tagen bei abendlichen Besuchen im Revier beobachtet hatte, traten die Schwarzkittel ein Stück entfernt links von seinem Hochsitz aus dem Wald aus. Von dort wechselten sie regelmäßig, fast exakt im rechten Winkel zum Waldrand, über die Weide und drangen in das Maisfeld ein. In dieser Phase, in der sich die Schwarzkittel, wie man aus den Spuren lesen konnte, offenbar Zeit ließen, sollte ihm als geübten Schützen ein Treffer gelingen.

      Kerner erklomm den Hochsitz und ließ sich in ungefähr sieben Metern Höhe auf das Sitzbrett nieder. Von hier aus hatte er einen hervorragenden Blick über die leichte Senke. Über den Rand des Maisfeldes hinweg, gewissermaßen am Horizont, konnte er den geschotterten Wirtschaftsweg erkennen, der sich zwischen den Ortschaften Partenstein und Wiesthal mehrere Kilometer entlangzog. Wie Kerner wusste, war dies eine beliebte Abkürzung der Landbevölkerung zwischen den beiden Orten – im Volksmund auch Cognacstraße genannt. Anders ausgedrückt, ein Schleichweg in beide Richtungen für nicht mehr ganz fahrtüchtige Dorfbewohner.

      Er zog sein Gasfeuerzeug heraus und hielt es in die Höhe. Die sensible Flamme war der beste Anzeiger für die Windrichtung. Da Wildschweine ein ausgezeichnetes Witterungsvermögen besaßen, war diese Vorsicht durchaus angezeigt. Von links, also Westen, kam eine


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