Blutiger Spessart. Günter Huth
erkannt und gefördert. Kerner hatte gleich nach seinem Dienst als Zeitsoldat bei der Bundeswehr ein Jurastudium begonnen und innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen. Sein Examen hatte er mit einer Spitzennote abgelegt und war sofort bei der Staatsanwaltschaft in Würzburg eingesetzt worden. Zwischendurch hatte er einige Jahre als Richter am Amtsgericht Bamberg gearbeitet, um dann wieder an die Würzburger Behörde zurückzukehren. Dort hatte er es bis zum Oberstaatsanwalt und Vertreter des Behördenleiters gebracht. Eine Bilderbuchkarriere.
»Wir sind bei diesen Überlegungen natürlich davon ausgegangen, dass bis dahin das Verfahren gegen Emolino beendet und der Kerl verurteilt ist. Das wäre ein hervorragender Abschluss deiner Tätigkeit hier gewesen. Da die Entscheidung über die Stellenbesetzung in diesen Tagen fallen wird, solltest du dir Gedanken machen, ob du die Bewerbung unter den gegebenen Umständen aufrechterhalten willst. Du bist wie kein anderer in der Materie der Verfolgung dieses Verbrechers drin. Ich könnte mir vorstellen, dass man im Ministerium einer Entscheidung gegen den Direktorenposten nach den heutigen Ereignissen Respekt zollen wird. Meine Nachfolge ist für dich damit sicher nicht vom Tisch. Simon, im Augenblick wirst du hier gebraucht.«
Kerner erhob sich. »Ich muss dir ehrlich sagen, dass mir meine Karriere im Augenblick ziemlich egal ist. Glaube mir, Emolino zur Strecke zu bringen ist nach den heutigen Geschehnissen mein Hauptanliegen, noch mehr als zuvor.«
Er zog seine Robe aus und warf sie sich über den Arm.
»Armin, nimm es mir bitte nicht übel, dass ich dieses Thema zunächst hintanstelle. Jetzt müssen wir erst einmal diese Pressekonferenz hinter uns bringen. Danach werde ich nach Hause fahren. Ich benötige dringend zehn Stunden Schlaf. Die Vorbereitung auf den Prozess und jetzt das alles hier – das geht ganz schön an die Substanz.«
»Mach das, Simon. Aber denk daran, der Kampf muss weitergehen! Wir benötigen dafür motivierte Männer. Männer wie dich!« Er legte dem Oberstaatsanwalt väterlich seine Hand auf die Schulter und brachte ihn zur Tür.
Nachdem Kerner das Büro verlassen hatte, blieb der Leitende Oberstaatsanwalt noch eine ganze Weile mitten im Zimmer stehen und starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Von seinem Dienstzimmer bis zu der Stelle, von der der Schütze den Anschlag auf den Gefangenentransport durchgeführt hatte, war es Luftlinie nur eine kurze Strecke. Auch er hatte den Knall der Explosion und die Erschütterung des Gebäudes deutlich mitbekommen. Dieser Anschlag hatte ihm wieder einmal drastisch vor Augen geführt, wie verletzlich und angreifbar die Justiz dieser Republik war.
Er riss sich aus seinen Gedanken. Um Kerner machte er sich keine größeren Sorgen. Der würde sich seine Worte durch den Kopf gehen lassen und eine Entscheidung treffen, die der Sache dienlich war, da war er sich sicher. Nach einigen Tagen würde er den Schock überwunden haben und mit der ihm eigenen Zähigkeit die Ermittlungen gegen den Emolino-Klan weiterbetreiben. Als sein Vorgesetzter musste er nur ein wenig aufpassen, dass Simon Kerner die Sache nicht zu persönlich nahm.
Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer im Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Über seine Verbindungen konnte er vielleicht schon einen Tipp erhalten, wie die Chancen Kerners im Auswahlverfahren um den Direktorenposten standen.
Die Pressekonferenz dauerte fast zwei Stunden. Nach den offiziellen Statements verlangten die Journalisten noch persönliche Interviews. Wie erwartet, hatte Kerner der Pressemeute völlig beherrscht Rede und Antwort gestanden. Er war Profi, seine Befindlichkeit war seine private Angelegenheit.
Nur einmal reagierte er etwas irritiert. Eine Journalistin fragte ihn, ob es zutreffend sei, dass er sich an eine andere Justizbehörde versetzen lassen wollte. Innerlich stieß Kerner einen Fluch aus, weil diese Behörde, was die Geheimhaltung von Personalinformationen betraf, offenbar löchrig wie ein Schweizer Käse war. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken und gab eine diplomatische Antwort, die man auslegen konnte, wie man wollte.
Er betrat sein Büro und warf verärgert die Unterlagen aus der Pressekonferenz auf den Besprechungstisch in der Ecke. Eigentlich hatte er jetzt sofort nach Hause fahren wollen, aber auf seinem Schreibtisch lagen einige rote Akten, die alle den Merkzettel »Eilt sehr« trugen. Seufzend ließ er sich in seinen Bürosessel fallen. Eine halbe Stunde würde er wohl noch investieren müssen.
In diesem Augenblick klopfte es an seine Tür. Kerner runzelte die Stirne. Welche Störung gab es jetzt schon wieder? Unwirsch brummte er ein halblautes »Herein«.
Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner steckte den Kopf herein und musterte den Mann hinter dem Schreibtisch.
»Kann ich noch einmal kurz …?« Der Kriminalbeamte war Leiter des Dezernats für das organisierte Verbrechen der Kripo Würzburg und hatte in dieser Eigenschaft an der Pressekonferenz teilgenommen. Der Fall Emolino gehörte schon seit Jahren zum Dauerbrenner seiner Abteilung. Er war nach der Pressekonferenz noch von einigen Journalisten in Beschlag genommen worden und hatte deshalb nicht mehr mit Kerner sprechen können.
»Wird sich wohl nicht verhindern lassen«, erwiderte der Oberstaatsanwalt jetzt gespielt brummig.
Der Kriminalbeamte grinste und schloss die Türe. Ohne Umstände näherte er sich der Sitzgruppe am Besprechungstisch und ließ sich unaufgefordert in einen der Sessel fallen. Brunner und Kerner kannten sich seit dem Tag, an dem Kerner in der Staatsanwaltschaft das Morddezernat übernommen hatte. Die beiden hatten sich im Laufe der Jahre kennen und schätzen gelernt und, das konnte man ohne Übertreibung sagen, dabei eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Die brummige Reaktion des Staatsanwalts beachtete Brunner gar nicht. Die brutale Hinrichtung des Kronzeugen in dem Verfahren gegen Emolino hatte auch den Kriminalisten schwer getroffen. Schließlich war dadurch die Ermittlungsarbeit mehrerer Monate weitgehend nicht einmal mehr das Papier wert, aus dem die Akten bestanden.
Kerner unterschrieb noch schnell einen Antrag auf eine richterliche Durchsuchungsanordnung, dann klappte er die Akten zu und legte sie in den Postauslauf. Ein Mitarbeiter würde sie später abholen. Er legte seinen Füllfederhalter in die Ablageschale und sah Brunner wortlos an.
»Ich hoffe, die Frage lautet: Wie machen wir weiter … und nicht ob? Oder?« Brunner beugte sich nach vorne und musterte Kerner durchdringend. Er war einige Jahre jünger als Kerner. Ebenfalls sportliche Figur, militärisch kurz geschnittene Haare, gekleidet in legerem Denim – damit entsprach er durchaus dem Klischee eines Serienkommissars aus dem Fernsehen. Das war aber auch alles, was er mit diesen Krachbumm-Typen, wie er sie nannte, gemeinsam hatte. Brunner war ein sehr fähiger Ermittler. Ein Kriminalbeamter mit menschlichem Tiefgang, psychologischem Einfühlungsvermögen und hoher Intelligenz.
»Simon, du hast mir ja anvertraut, dass du einen beruflichen Karriereschritt anstrebst. Ich hoffe aber, dass das mit den Ereignissen des heutigen Tages hinfällig ist. Wir können und müssen diesem verdammten Verbrecher und seiner sogenannten Familie das Handwerk legen! Früher oder später macht er einen Fehler und dann …«
Er machte eine bezeichnende Handbewegung mit seiner flachen Hand an seinem Kehlkopf vorbei. »Je dichter wir ihm aufs Fell rücken, desto eher wird das passieren. Die angrenzenden Dons in Bayern und Hessen sind massiv beunruhigt, wie ich aus Kollegenkreisen erfahren habe. Durch unsere intensiven Ermittlungen gegen Emolino bleibt das Interesse der Behörden auch an ihren Aktivitäten für sie unerfreulich wach. Das ist schlecht fürs Geschäft. Wenn Emolino so weitermacht, bekommen wir möglicherweise sogar Tipps aus dem Milieu. Er dürfte einigen Herren unangenehm aufstoßen. Also, Simon, kneifen gilt nicht!«
Kerner rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Eberhard, das hat nichts mit Kneifen zu tun, das weißt du. Im Prinzip hast du natürlich recht. Nimm es mir aber bitte nicht übel, wenn ich darüber noch ein paar Tage nachdenke. So eine Entscheidung kann man nicht übers Knie brechen.« Er wechselte das Thema. »Was willst du jetzt als nächsten Schritt unternehmen?«
»Auf jeden Fall den ganzen Klan weiter observieren. Wir sind im Augenblick noch in der glücklichen Lage,