Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl
über die Sittlichkeit anderer Kulturen machen würden. Dafür haben wir keine ethische Lizenz. Wir bilden unser sittliches Bewusstsein ja selbst zuerst in unserer eigenen Kultur. Wir lernen dabei, was sich gehört, und entwickeln ein Gefühl für das, was gilt. Ohne dieses sittliche Gefühl wüssten wir nicht, was es bedeutet, dass wir etwas tun oder lassen sollten, was gut oder schlecht ist. Dieses Gefühl ist etwas, was keine Ethik vermitteln kann. Wenn wir unser eigenes sittliches Gefühl schätzen, sollten wir dies auch Menschen anderer Kulturen zubilligen und nicht über sie richten.
Wir können uns das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik am Verhältnis zwischen Dialekt und Fremdsprache klar machen. Die Sitten, für die wir ein Bewusstsein bilden, lernen wir wie unsere erste Sprache. Wir lernen erst einen Dialekt, dann die Hochsprache, zu der er gehört. Die sittliche Hochsprache ist die Sittlichkeit. Zu ihr gehören die Sitten, die wir zu Hause, aber besonders im Religions- und Schulunterricht kennenlernen. Verglichen damit ist jede Ethik eine Fremdsprache, die wir ebenfalls erlernen können. Wir können sie aber nur erlernen, wenn wir vorher schon sprechen können, also schon einen Dialekt (Sitte) und eine Hochsprache (Sittlichkeit) kennen. Außerdem können wir eine Fremdsprache nur erlernen, wenn wir wissen, was eine Grammatik ist. Die Grammatik, die wir für eine Ethik benötigen, enthält viele Begriffe, u. a. des Guten, des Sollens, der Pflicht, der Verantwortung und des Zusammenhangs zwischen ihnen. Jede Grammatik ist eine begrifflich anspruchsvolle, abstrakte Angelegenheit, die uns einiges abverlangt und viel Wissen voraussetzt. Wir müssen wissen, was ein ethisches Prinzip von einem Gebot unterscheidet und wie das eine vom anderen abhängt. All das benötigen wir nicht für das sittliche Bewusstsein, das wir als Erstes erwerben.
Keine Grammatik vermittelt die sprachlichen Grundlagen, die wir benötigen, um sie zu verstehen. Genauso verhält es sich mit jeder Ethik. Keine Ethik vermittelt das sittliche Bewusstsein für unser Verständnis all der Begriffe und ihrer Zusammenhänge, die in ihr eine Rolle spielen. Der Ethikunterricht in der Schule kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Schüler schon ein sittliches Bewusstsein für das haben, was sich gehört. Wir erwerben keine Ethik ohne sittliches Bewusstsein, ähnlich wie wir keine Fremdsprache ohne unsere Sprachfähigkeit erwerben können. Eine Ethik kann fehlendes sittliches Bewusstsein nicht ersetzen. Ein guter Ethikunterricht nimmt darauf Rücksicht und ignoriert oder verurteilt nicht das bis dahin erworbene sittliche Bewusstsein der Jugendlichen. Selbst wenn es das Ziel des Unterrichts ist, schlechte Sitten zu überwinden, sollte der Unterricht bei den guten Sitten beginnen und sie vertiefen. Es wäre ähnlich unsinnig, wenn mit dem Erwerb einer Fremdsprache die Muttersprache oder der heimische Dialekt ignoriert oder verurteilt würden. Beides wird leider häufig getan.
Die Rückbindung des Ethikunterrichts an die Sittlichkeit ist unverzichtbar, weil die guten Sitten die Wurzeln und Grundlagen des sittlichen Bewusstseins sind, ohne die keine gute Ethik gelten kann. Es gibt auch schlechte Ethiken. Sie sind daran erkennbar, dass sie die Sittlichkeit und das gute sittliche Empfinden verletzen und dem sittlichen Bewusstsein der Menschen widersprechen. Eine Ethik, die dem Egoismus und dem Selbstinteresse des Einzelnen einen Vorrang vor allen anderen Interessen einräumt, wird dem guten sittlichen Bewusstsein vieler, vielleicht der meisten Menschen widersprechen. Ähnliches gilt für eine Ethik der Vergeltung, welche die Grausamkeit gegen Straftäter zur Abschreckung vor künftigen Straftaten bis hin zur Folter rechtfertigt. Der Schritt von der Anwendung der Ethik der Vergeltung auf Andersdenkende für ihr Anderssein ist nicht groß. Eine Ethik des Egoismus toleriert auch das grausame Töten von Tieren. Und auch dies widerspricht dem guten sittlichen Bewusstsein vieler, vielleicht der meisten Menschen.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der Ethikunterricht in den Schulen in unserer Zeit schlechte Ethiken vermittelt. Es gab rassistische und fremdenfeindliche Ethiken in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Sie existieren auch heute in vielerlei Gestalt im Alltag, in der Wirtschafts- und Arbeitswelt vieler Gesellschaften. Wenn ihnen Jugendliche begegnen, deren sittliches Bewusstsein davor durch Hilfsbereitschaft, die Achtung vor der Person des Anderen und Fremden, die Sorge für sich und die anderen geprägt war, werden sie nicht mehr wissen, was nun eigentlich gilt. Eine Ethik des Egoismus kann nahtlos an das ebenfalls in vielen Gesellschaften vorhandene schlechte sittliche Bewusstsein anknüpfen. Keine Gesellschaft ist ohne Unsitten und Amoral. Die Irritation, die der Gegensatz zwischen einer schlechten Ethik und den guten Sitten auslöst, kann den Glauben an die Geltung der Sittlichkeit und einer guten Ethik untergraben. Dann fehlt einer guten Ethik ihre Geltungsgrundlage. Sie hat dann keine Wurzeln und ist auch nicht zuverlässig wirksam. Wenn der Ethikunterricht in Schulen nicht an eine geltende Sittlichkeit anschließen kann, ist er unwirksam. Es fehlt ihm die Grundlage einer guten Ethik, nämlich die Einsicht in das, was sich gehört.
Eine gute, an der Würde des Menschen und den Menschenrechten orientierte Ethik kann aber auch das zu Hause erworbene sittliche Bewusstsein verletzen, wenn dies von Verachtung und Gewalt gegen Andersdenkende und Frauen und von Rache gegen diejenigen, welche die eigene Ehre verletzt haben, geprägt ist. Opfer dieser Rache aus verletzter Ehre können die eigenen Verwandten auf grausame Weise werden. Es sind in vielen bekannt gewordenen Fällen Frauen, die ihren eigenen Weg gehen und sich nicht den Sitten ihrer Ethnie, ihrer Verwandten und ihres Clans unterwerfen wollten.
Die Bildung der Sittlichkeit in der Schule ist angesichts eines solchen archaischen sittlichen Bewusstseins durch die abstrakten Angebote des Ethikunterrichts schwer möglich, aber nicht unmöglich. Die Teilnehmer des Unterrichts werden für die Bildung ihres sittlichen Bewusstseins vielleicht von der Lektüre von Anne Franks Tagebuch mehr gewinnen als von einem Ethik-Lehrbuch. Es ist erschütternd zu lesen, dass Anne Frank (1929 – 1945) kurz vor ihrer Deportation 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen und ihrem Tod 1945 schreibt, in den Menschen herrsche eine zerstörerische Kraft zu töten, die Kriege verursache. Es seien nicht die Politiker allein schuld an Kriegen. Die Kriege werden so weiter gehen, wenn die gesamte Menschheit sich nicht ändere, schreibt die fünfzehnjährige Anne.
Dieser erschütternde Appell richtet sich an uns alle. Vielleicht erreicht er auch diejenigen, die von einem archaischen sittlichen Bewusstsein geprägt sind. Es wird aber kein direkter Weg von einem archaischen sittlichen Bewusstsein zu einer guten Ethik führen, bevor nicht die Sittlichkeit und die Bedeutung der guten Sitten, die auch von diesen Menschen anerkannt werden, vertieft worden ist. Der Ethikunterricht darf die Selbstachtung der Jugendlichen nicht verletzen, auch wenn sie schlechtem Verhalten zugrunde liegt, weil ohne Selbstachtung die Bereitschaft, das eigene sittliche Bewusstsein zu korrigieren, nicht denkbar ist. Denn ohne Selbstachtung kann niemand Sorge für sich und andere tragen.
Die Selbstachtung kann gestärkt werden, wenn die Bedeutung der Gastfreundschaft, der Hilfsbereitschaft und anderer guter Sitten, die auch für diese Menschen gute Sitten sind, im Unterricht ernst genommen werden. Wer versteht, dass diese guten Sitten den archaischen Rache- und Verachtungssitten widersprechen, wird erkennen, dass nur die guten Sitten Grund zur Selbstachtung geben. Der Widerspruch wird daran erkennbar, dass die Rache- und Verachtungssitten auch diejenigen treffen können, die sie vertreten. Die Menschen können zu Opfern ihrer eigenen Amoral werden. Es mag nicht einfach sein, dies jungen Menschen klar zu machen, vor allem dann nicht, wenn sie zu Hause das Gegenteil hören.
In jedem Fall müssen die Wurzeln der Sittlichkeit sorgfältig gepflegt und vertieft werden, bevor die Angebote einer Ethik mit ihren abstrakten Begriffen Aussicht auf Erfolg haben. Denn keine Ethik schafft mit abstrakten Begriffen die Sittlichkeit und ein gutes sittliches Bewusstsein und Empfinden. Die Selbstachtung ist Teil dieses Empfindens und das Empfinden selbst ist ein Ausdruck der Sorge der Menschen um sich selbst, um ihr Leben und das Leben der Anderen. Eine Ethik sollte auf der Grundlage eines guten sittlichen Bewusstseins gelten.
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