Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl
auch eine Daseinsstimmung. Deswegen können wir ihr in Heideggers Worten zubilligen, ›wesenhaft Sorge‹ zu sein. Damit wird aber nicht sichtbar, wie die Sorge wirkt, und was sie wirklich tun kann. Ontologisch bleibt die Sorge ein Gedanke, der abstrakt, farblos und frei von Schwankungen ist. Die Bedeutung der Sorge für das Leben wird postuliert, aber nicht so beschrieben, dass wir ihre Bedeutung für das eigene Leben erkennen können.
Anders verhält es sich mit der Sorge, die Goethe im Faust beschreibt. Ich wiederhole noch einmal seine Verse: »Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, / Doch wirket sie geheime Schmerzen, / Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh« (V. 644 – 646). Dies trifft die Unruhe stiftende, gefährdende Lebensstimmung der Sorge. Das Maß dieser Sorge entspricht Fausts verzweifelter Verfassung. Im »Zweiten Teil« des Faust erscheint die Sorge als eine von vier »grauen Weibern« (V. 11384 – 11498) um »Mitternacht«.
Der Kommentator Albrecht Schöne (1925 – 1952) nennt dies »Endzeitangabe« (2003, 732) und weist auf die unterschiedlichen Deutungen der Sorge hin, als »Dämon«, als »qualvoll beengende Gewalt« (733). Dabei ist Faust sorglos in seiner rastlos blinden Tätigkeit (734). Michael Jaeger deutet Fausts Bewegungsdrang als »Abwehr der Todesahnung«, als Ausdruck einer »existentialistischen Ontologie« (Fausts Kolonie, 427). Die Gestalt der Sorge stellt diesen verdrängenden Bewegungsdrang Fausts als »vermeintlich pragmatischen Vorsatz zum Weiterschreiten« bloß, wie Jaeger feststellt (429). Goethe beschreibt die Sorge als Ankündigung eines fatalen Endes: »Wen ich einmal mir besitze, / Dem ist alle Welt nichts nütze; / Ewiges Düstre steigt herunter, / Sonne geht nicht auf noch unter, /… / Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle« (V. 11453 – 56, 11461 f.). Faust will davon nichts wissen: »Hör auf! so kommst du mir nicht bei! Ich mag nicht solchen Unsinn hören« (V. 11467 f.). Albrecht Schöne erkennt in den Sorge-Versen, angelehnt an den Mediziner Nager, »alle klassischen Lehrbuchsymptome« einer Depression (2003, 739).
Da es um Fausts Ende geht, beschreibt Goethe nur die düstere, lebensgefährdende Sorge als Krankheitsphänomen, eine Krankheit zum Tode ohne die Selbst- und Glaubenszweifel, die diese Krankheit bei Kierkegaard (1813 – 1855) hat. Faust wehrt sich gegen die Selbstzweifel und will mit aller Macht die Einsicht in seine ausweglose Lage verdrängen. Diese Sorge kann nicht mehr lebensstiftend und lebensbewahrend werden. Sie ist nur noch zerstörerisch, eine das Leben gefährdende, verzweifelte Kraft. Paul Stöcklein beschreibt ausführlich die größere Gefühlseinheit der Sorge von der »quälenden Entschlußlosigkeit« bis zum quälerisch verzagten Reuegefühl (21960, 93–162, hier: 118).
Wir sollten beide Seiten der Sorge ernst nehmen, die helle und die dunkle, weil beide unser Dasein bestimmen können. Wir können uns, wie Heidegger annimmt, zu dem entwerfen, wer wir sein können, wir können uns aber auch wie Faust, den Tod und das eigene Versagen verdrängend, in blindem Bewegungsdrang verfehlen und in Depression verfallen. Es kommt auf das Maß der Sorge an, das zwischen einem erdrückenden Übermaß und einer törichten Sorglosigkeit liegen sollte. Die Sorge wirkt im moralischen Handeln, aber auch jenseits der Ethik. Sie mutet uns mehr zu als das, was ethisch gerechtfertigt werden kann, vor allem dann, wenn es um Entscheidungen über Leben und Tod geht.
Das Selbstverständnis, das wir der Sorge um unser Dasein verdanken, entsteht nicht in unseren sittlichen Gefühlen. Würden wir dies dennoch annehmen, würden wir Vorher und Nachher, das Spätere mit dem Früheren, verwechseln. Unsere Gefühle sind im Übrigen unzuverlässig und wechselhaft. Es hat keinen Sinn zu behaupten, dass wir sittliche Wesen sind, weil wir sittliche Gefühle haben. Damit würden wir nur sagen, dass wir sittliche Wesen sind, weil wir sittliche Wesen sind. Und was für welche (!), könnten wir gleich darauf resignierend bemerken. Das Normative als Normatives zu erklären, ist zirkulär, beliebig, manipulierbar und gedankenlos. Wir entfliehen damit der Schuldigkeit, die wir unserem Dasein gegenüber haben.
Den Anspruch der Schuldigkeit vertritt auch Heidegger, wenn er von der Sorge als Schuldigkeit, sich zu entwerfen, spricht (Sein und Zeit, 286). Er nennt die Schuldigkeit auch »Entschlossenheit« (297). Deren Bestimmtheit sei die Unbestimmtheit (298). Dies ist kein inhaltsleeres Paradox. Die Formulierung will zeigen, dass die Sorge nicht schon bestimmte Ziele hat, auf die wir uns richten können. Würde die Sorge fertigen Entwurfszielen folgen, wäre sie nicht nur ontologisch, sondern auch moralisch vorherbestimmt. Wir würden schon wissen, wohin wir gehen sollten und gegangen sein werden, bevor wir unser Dasein entworfen haben. Wir kennen nur die Schuldigkeit als Sorge um uns selbst, um die anderen, um die Natur und die Umwelt.
Mit der Sorge folgen wir keinem vorgefertigten Katalog von Maximen in dem Glauben, damit unserer Schuldigkeit gerecht zu werden. Wir leben mit einem gewissen Maß an Angst vor dem Scheitern, vor dem Ende des Daseins und vor dem sinnlosen, oberflächlichen Dahinleben. Wir sind offen für Glücken oder Scheitern. Das Scheitern ist nicht weniger wahrscheinlich als das Glücken. Wenn die Sorge von Sorgfalt und Hingabe begleitet wird, sind wir zur Sympathie und zum Wohlwollen anderen gegenüber fähig.
Die Lebensstimmung der Sorge verstehen wir ontologisch nur unzureichend, weil wir so ihre Verbindung mit der Sittlichkeit nicht verstehen. Heideggers Gedanke der »Geworfenheit« ins Dasein lenkt von dieser Verbindung sogar ab, weil er Voraussetzungslosigkeit suggeriert. Wir sind als Einzelne nicht ins Dasein geworfen, sondern sind Nachkommen in einer Welt, in der es schon andere gibt. Zuerst sind wir Nachkommen, dann erst Einzelne. Es entspricht der Ordnung unseres Daseins, zuerst in Beziehungen mit den Anderen in der Welt zu leben und dann erst allein und mit uns selbst.
Hartmut Rosa nennt diese Beziehungen ›Resonanz‹ (2018). Er meint damit Schwingungen, die sich überlagern und synchronisiert werden sollten, wenn wir ein gutes Leben führen wollen. Rosa versteht Resonanz zunächst angeregt durch Heidegger als »Art des In-der-Welt-Seins« (55). Heideggers Konzept der Sorge deutet er als »Aufrechterhaltung einer Resonanzbeziehung« (191). Wir verursachen selbst Schwingungen und empfangen die Schwingungen der Anderen und der Dinge in der Welt. Heideggers Konzept der Angst versteht Rosa als Verlust der Resonanzbeziehung.
Das Wort ›Resonanz‹ ist gut gewählt, weil es Senden und Empfangen, das Aktive und das Passive, Sprechen und Hören, Subjekte und Objekte, ich und die Anderen nicht trennt. Allen Dichotomien geht mit der Resonanz etwas voraus, was noch nicht geschieden ist, die Dichotomien aber beeinflusst. Die Relation bestimmt die Relata. Die fühlbaren, hörbaren und sichtbaren Beziehungen kommen vor dem eigenen Tun. Das ist beim Antworten offensichtlicher als beim Fragen und Sprechen, trifft aber auf beides zu. Auch die Sittlichkeit ist eine Beziehung vor dem eigenen Tun und Lassen. Das Tun und Lassen ist dann aber unausweichlich. Wir sind gefordert und aufgerufen, uns erkennbar zu machen. Die Sittlichkeit vereinzelt uns. Wir werden zu Handelnden. Die Resonanz unseres Handelns müssen wir dann verantworten und für uns selbst einstehen.
Über die Resonanz wirkt die Sorge im moralischen Raum unseres Lebens. Ob etwas aus allgemein geltenden Gründen und nicht nur aus sittlicher Gewohnheit zu tun ist, und ob etwas gegen schlechte Sitten getan werden soll, ist von der Sorge um das gute Leben bestimmt. Es geht um das gute Leben zu Hause und mit Menschen aus anderen Kulturen. Diese Sorge findet ihren Ausdruck in der gelebten Sittlichkeit. Thematisch wird die Sittlichkeit in der Ethik. Die Sorge wirkt damit über die Sittlichkeit in eine Ethik, weil es die Ethik nicht gibt.
Wir suchen nach einer Ethik, mit der wir unser Dasein gestalten können. Wenn uns nicht schon aus sittlichem Empfinden klar ist, was wir tun sollen, kann uns eine Ethik helfen, das, was wir sollen, zu begründen. Die nächste Frage ist aber, mit welcher Ethik dies gelingt. Die Lösung liegt nicht auf der Hand, weil keine Ethik so selbstverständlich wie eine Sitte gilt. Eine Ethik kann außerdem vielen Sitten widersprechen. Schließlich erheben viele Ethiken den Anspruch, allgemein, unabhängig von kulturellen Grenzen, zu gelten. Die Sorge um das Leben mit Menschen aus anderen Kulturen, die mit anderen Sitten leben, ist ein Gebot der Sittlichkeit, aber noch keine Ethik. Jene Sorge ist aber ein Motiv, die Gegensätze zwischen Sitten und Kulturen zu überbrücken, zumindest aber zu entschärfen und ihnen ihr gewalttätiges, lebensbedrohliches Potential zu nehmen.
Die Konflikte zwischen Sitten unterschiedlicher Kulturen legen nahe, dass eine gute Ethik hilft, regional geltende Sitten zu überwinden und zu ersetzen. Theoretisch ist dies einfach, praktisch nicht. Die Resonanz der sittlichen Beziehungen existiert vor jeder