Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl
ihr Verhalten gefährden würden. Die Straßenverkehrsordnung, aber auch der Schutz vor Seuchen sind Beispiele für begründeten Zwang. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit zum Schutz vor Seuchen und die Regelung der Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit gelten unabhängig von der Zustimmung und Einsicht der Menschen.
Es ist leicht erkennbar, dass viele kulturell geprägten Formen der Sittlichkeit ungeeignet für Kategorische Imperative sind. Die moralische Selbstbestimmung Kants kennt nur den Selbstzwang im Anschluss an die Prüfung von Maximen auf ihre Eignung als kategorisch geltende Imperative. Selbst das, was wir ›gute Sitten‹ nennen und der Sittlichkeit zurechnen, eignet sich nicht ohne weiteres als Imperativ dieser Art. Nehmen wir als Beispiel die Hilfsbereitschaft und die Großzügigkeit. Diese guten Sitten können nicht ohne anspruchsvolle Voraussetzungen zu Pflichten werden. Wer hilfsbereit und großzügig sein will, benötigt dafür einige Mittel. Arme und Hilfsbedürftige können anderen nicht helfen. Sie können vielleicht das Wenige, das sie haben, teilen und sich als großherzig erweisen. Wirklich großzügig können nur Menschen sein, die anderen etwas von dem abgeben wollen und können, was sie über den eigenen Bedarf hinaus besitzen und worauf sie verzichten. Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit können Kategorische Imperative werden, wenn sie die Bedingungen enthalten, unter denen sie sich verallgemeinern lassen. Jeder kann Opfer mangelnder Hilfsbereitschaft werden. Jeder kann alles verlieren, was ihm erlaubte, großzügig zu sein. Die menschliche Sittlichkeit kann kaum durch Kategorische Imperative geprägt werden.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel der von Aristoteles hoch geschätzten Tugend der Freundschaft. Die Befähigung zur Freundschaft schließt Hilfsbereitschaft, Zuneigung, Verständnis, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit und Aufrichtigkeit ein. Freunde kann es nur wenige geben, und es gibt sie in moralischen Räumen nur in der Nähe. Es ist sogar so, dass die Nähe durch die Freundschaft bestimmt wird und nicht umgekehrt die Freundschaft durch die Nähe. Deswegen können wir weit entfernt lebenden Freunden nahe sein. Die Tugend der Freundschaft könnten wir nur dann als Kategorischen Imperativ formulieren, wenn wir alle eben genannten Merkmale als Bedingungen in die Forderungen des Imperativs integrieren könnten. Das entscheidende Merkmal der Zuneigung können wir aber mit keinem Imperativ verbindlich machen. Zuneigung kann ähnlich wie die Liebe niemandem zur Pflicht gemacht werden. Das zum Dekalog gehörende und von Jesus wiederholte Gebot ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ würde dem widersprechen, wenn das ›wie dich selbst‹ nicht der Vergleichsmaßstab wäre. Der Vergleichsmaßstab macht das Liebesgebot nicht zu einer absolut geltenden Liebespflicht, sondern zum Appell, zu versuchen, den anderen wie sich selbst zu lieben. Dies gelingt nicht immer. Dass das christliche Liebesgebot auch Feinde einschließt, macht aus dem Appell eine Zumutung.
Die Maximen der Sittlichkeit gelten, ohne dass sie ethisch theoretisch begründet werden könnten. Sie sind selbst unbegründete Grundlagen der Moral, unabhängig davon, ob sie sich für Kategorische Imperative eignen. Selbst wenn sie sich dafür eignen, wird ihre Geltung lediglich durch ihre Allgemeingültigkeit bestätigt. Sie werden aber nicht begründet. Für die guten Sitten gibt es keine Begründungen. Sie sind wünschenswert und verdienen Anerkennung unabhängig von Begründungen. Es kommt darauf an, sich von ihnen überzeugen zu lassen. Noch mehr kommt es darauf an, ihnen folgen zu wollen.
Die Sitten, die wir der Sittlichkeit zurechnen, gibt es in den kulturellen Räumen mit ihrer jeweiligen Geschichte. Sie gelten nicht raum- und zeitlos, sondern wandeln sich mit den Mentalitäten. Sitten wie Redlichkeit, Rechtschaffenheit und Vaterlandsliebe sind in den Augen vieler verstaubt. Die Vaterlandsliebe ist von ihrem Missbrauch und ihrer Manipulierbarkeit in unserer jüngeren Geschichte belastet und kann nicht ohne Erinnerung daran zu unserer Sittlichkeit gehören. Der abstrakte und emotional blasse Verfassungspatriotismus mag an ihre Stelle treten. Redlichkeit und Rechtschaffenheit haben als Ehrlichkeit, Gradlinigkeit und Zuverlässigkeit noch immer die Bedeutung, die sie hatten. Ob sie noch über das frömmelnde Bekenntnis zu ihnen hinaus ernst genommen werden, ist unklar.
Unsere sittlichen Gefühle können von Verhaltensweisen bestätigt, gefördert oder verletzt und in Frage gestellt werden. Ein Forum dieser Gefühle ist das Gewissen. Es regt sich, wenn wir selbst etwas tun, was fragwürdig oder schlecht ist. Ein gutes Gewissen gibt es nur im Volksmund, aber nicht wirklich. Heidegger hat wohl recht: Es gibt nur das schlechte Gewissen, das Alarm schlägt. Er spricht vom Ruf des Gewissens als Aufruf zum Schuldigsein (Sein und Zeit, 269). Wir sind oft unsicher, ob das, was wir getan haben, gut oder schlecht ist, und diese Unsicherheit äußert sich als Gewissen. Eine Klärung unserer Unsicherheit kann das Gewissen nicht leisten. Da unsere sittlichen Gefühle wandelbar sind, ist auch unser Gewissen wandelbar. Das Gewissen und die sittlichen Gefühle werden in der Erziehung entwickelt. In Räumen mit schlechten Sitten können sich das Gewissen und gute sittliche Gefühle aber kaum entwickeln. Sie werden eher unterdrückt und pervertiert. Deswegen sind das Gewissen und die sittlichen Gefühle nicht nur wandelbar, sondern auch nicht zuverlässig. Wenn sich das Gewissen nicht regt, ist dies noch kein Nachweis dafür, dass alles gut ist. Wir Menschen können uns durch Anpassung leicht angewöhnen, Schlechtes und Verwerfliches gewissenhaft und zuverlässig zu tun. Deswegen dürfen wir unserem Gewissen und unseren sittlichen Gefühlen nicht blind vertrauen.
Da ich Kant als ethischen Ratgeber nannte, wäre es unaufrichtig, wenn ich nicht darauf hinweisen würde, dass er dem Gewissen als »innerer Stimme« ohne Wenn und Aber vertraut. Dabei fällt ihm dies nicht leicht, weil das Gewissen im Rahmen der moralischen Autonomie zwar Richter und Angeklagte sein sollte, dies aber nicht gleichzeitig sein kann. Thomas Oehl zeigt, dass Kant der Aporie entgehen kann, wenn der Mensch nach der Tat auf unterscheidbare Weise im Gewissen dem eigenen, autonomen Urteil und getrennt davon dem externen göttlichen Urteil gerecht wird (»Gott als Richter?«). Der Erfolg dieser Rettung des Gewissens hängt davon ab, wie Kant ›Gott‹ versteht. Die moraltheologische Rettung des Gewissens kann theoretisch gelingen, schützt das Gewissen in einer amoralischen Praxis aber nicht vor Irrtum und Verfall.
SORGE
Sittlichkeit und sittliche Gefühle sind nicht nur eng mit der Lebensstimmung der Sorge verbunden, sondern von ihr abhängig. In der Einleitung wies ich darauf hin, dass die Sorge nicht nur eine helle, das Leben bewahrende und schützende, sondern auch eine dunkle, das Leben gefährdende Seite haben kann. Entscheidend ist das Maß der Sorge. Zu wenig ist ebenso gefährdend wie zu viel. Zwischen sorglos und ängstlich müssen wir das rechte Maß der Sorge finden, weil das sittliche Leben vom rechten Maß der Sorge abhängig ist. Die Sorglosigkeit kann verantwortungslos, und die übermäßige Ängstlichkeit kann erdrückend sein. Beides gefährdet die Sittlichkeit.
Das Verständnis der ›Sorge‹ hat eine literarische Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte, auf die ich kurz eingehe, verändert ihre Bedeutung aber nicht. Wenn von ›Sorge‹ die Rede ist, denken Philosophen weniger an Goethe, sondern eher an Heidegger. Das ist nicht ganz gerecht, weil Heidegger selbst, vermittelt durch Konrad Burdachs Studie Faust und die Sorge (1923), zuerst an Goethe dachte und sich dann die Sorge für sein eigenes Denken aneignete. Genauer nachlesen können wir dies bei Sebastian Kaufmann (Heidegger liest Goethe, 2019, 21). Die Anregung durch Goethe ist in Heideggers Gedanken zur Sorge nur noch indirekt und vage erkennbar. Ich gehe auf seine Gedanken ein, obwohl sie den Zusammenhang zwischen der Sorge und der Sittlichkeit nicht unmittelbar berühren.
Heidegger sagt in Sein und Zeit über die Sorge, sie sei ein Werden zu dem, was der Mensch sein kann. Der Raum dieses Werdens sei die Freiheit. Das Freisein des Menschen »für seine eigensten Möglichkeiten« sei eine Leistung der Sorge (1967, 199). Das »In-der-Welt-sein« sei »wesenhaft Sorge« (193), und dieses Grundphänomen könne mit nichts erklärt werden, was es in der Welt gibt. In der Sorge sieht Heidegger die grundlegende Weise des Daseins. In ihr liege »das Sein des Daseins beschlossen« (231). Dieses Dasein definiert er als »Sich-vorweg-schon-sein-in« der Welt (249, 192). Dasein sei ein Entwurf, der in der Sorge »gründet« (259). Heideggers nächster Gedanke ist der Tod, das »Sein zum Ende« (252) und sein übernächster ist das »Gewissen als Ruf der Sorge« (§ 57, 274). Der Zusammenhang von Sorge, Tod und Gewissen ist das Spannungsfeld des Daseins, dem wir in Sein und Zeit literarisch begegnen.
Die Sorge hat für Heidegger