Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl

Ethik und ihre Grenzen - Wilhelm Vossenkuhl


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      Offensichtlich gibt es nicht den Wert der Sitte, und was als ›gut‹ gilt, ist nicht überall dasselbe. Es gibt sehr viele Sitten, nicht nur diejenigen, die mit den ursprünglich griechischen Worten gemeint und gut waren. Die sittliche Vielfalt ist in unserer Welt eher ein Problem als ein Wert, weil die einen mit ihren Sitten bei den anderen mit deren Sitten anecken. So entstehen Konflikte, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft erschweren und für einzelne Menschen tödlich sein können. Um sie zu beherrschen, ist nicht nur Toleranz und Respekt vor der Vielfalt der Sitten nötig, sondern auch die Sorge, die Konflikte zu lösen. Die Sitten gehören zu den Menschen und ihrer Herkunft. Schon ein kurzer Blick auf die sittliche Lage zeigt, dass es keinen Sinn hat, von einer Inflation der Sitten oder einer Inflation des sittlich Guten zu sprechen, bloß weil es viele Sitten und viele Bedeutungen des sittlich Guten in den Räumen der Welt gibt.

      Der inflationäre Gebrauch des Wortes ›Ethik‹ entwertet offensichtlich nichts, was vorher und früher ein sittlicher Wert war. Die Inflation der Wortverbindungen mit ›Ethik‹ spiegelt die Vielfalt der Wertvorstellungen weltweit. Ähnliches gilt für die Vielfalt der Sitten, der keine einheitlichen Wertvorstellungen zugrunde liegen. Sitten wie die Hilfsbereitschaft oder der Fleiß leiten aber das alltägliche Denken und Handeln der Menschen mehr oder weniger bewusst. ›Leiten‹ bedeutet ›zu etwas bewegen‹, wofür man keine Gründe braucht. Ob die Leitung gut oder schlecht ist, hängt auch vom Charakter des Einzelnen ab. Ein Egoist lässt sich anders leiten als ein Altruist. Sitten bewegen zu etwas selbstverständlich Erscheinendem. Gründe sind dazu nicht nötig. Deswegen ist die Leitung des Verhaltens durch Sitten moralisch unzuverlässig.

      Wir erkennen jetzt den Unterschied zwischen Sitte und Ethik: Jede Ethik entwickelt Begriffe des guten Handelns, des Sollens und der Pflichten und integriert sie in eine Theorie. Da die Begriffe des guten Handelns und des Sollens nichts Selbstverständliches sind, müssen sie begründet werden. Dagegen sind die Sitten etwas Selbstverständliches, was nicht begründbar ist. Sitten sind Anschauungen des Verhaltens, für die es Namen gibt, aber keine Begriffe. Jede Ethik entwickelt dagegen Kriterien guten Handelns und erklärt, warum es gut ist, sich daran zu orientieren. Sitten sind praktische Anleitungen des Verhaltens, begründen es aber nicht. Wer sich nicht an die üblichen Sitten hält, kann ausgegrenzt, diskriminiert und verachtet werden. Wer sich nicht an einer bestimmten Ethik orientiert, hat dergleichen nicht zu befürchten. Er kann sich je nach seiner Wertschätzung gegenüber theoretischen Begründungen und seinen Einstellungen entsprechend auch an einer anderen Ethik oder an keiner orientieren.

      Es gibt überall gute und schlechte Sitten. Diese Unterscheidung ist noch eine sittliche, keine ethische. Den Unterschied macht die Sittlichkeit. Sie ist die Summe der guten Sitten, die es verdienen, allgemein anerkannt zu werden. Sie können die Grundlage von ethischen Normen sein. Sitten gelten immer in regionalen Räumen. Die Sittlichkeit gilt überregional. Mit ihr bezeichnen wir den Bestand an Maximen, die den guten Sitten einer kulturell und zivilisatorisch ähnlich gebildeten Lebenswelt entsprechen. Aus vielen Maximen der Sittlichkeit wie z. B. ›Versprechen sind zu halten‹ können ethische Begriffe gewonnen werden. Die Sittlichkeit ist wie die Sitten mit Gefühlen verbunden. Wir empfinden Verstöße gegen das normale Verhalten, bevor wir wissen, ob sie begründet oder willkürlich sind. Das normale, selbstverständliche Verhalten selbst empfinden wir als wohltuend. Die Gefühle des Sittlichen sind im menschlichen Gewissen lebendig. Das Gewissen ist nicht zuverlässiger als die sittlichen Gefühle. Deswegen ist es keine taugliche Grundlage der Ethik.

      In der Einleitung nannte ich die Sorge eine Lebensstimmung, die der Sympathie und dem Wohlwollen anderen gegenüber, aber auch der Lebensangst zugrunde liegen kann, wenn sie uns wie ein böser Dämon ergreift. Sie hat eine helle und eine dunkle Seite. Die helle ist für die Sittlichkeit bedeutsam, als Grundmotiv, sich verantwortungsvoll um das eigene Leben und das Leben der Anderen, aber auch um die Natur und die Umwelt zu kümmern. Dabei geht es zunächst um die Menschen in der Nähe, um die eigene Familie, die Verwandten, die Freunde. Die Sorge ist wie die Sitten in regionalen Räumen zu Hause. Als Grundlage der Sittlichkeit geht sie aber weit über die nahen moralischen Räume hinaus. Deswegen ist die Sorge in Gestalt von Sympathie und Wohlwollen eine Kraft, Konflikte zwischen Sitten zu lösen.

      Die Versuche, sittliche Konflikte rechtlich oder ethisch-theoretisch zu lösen, bewegen die Menschen kaum. Dünkel, Verachtung und Hass sind schlechte, verwerfliche, dumpfe Gefühle, die unempfänglich für Argumente und Theorien sind. Gute Gefühle der Sorge wie Sympathie und Wohlwollen können schlechte Gefühle mit ihrer Wärme und Zuwendung entkräften und Menschen für Umkehr und Versöhnung öffnen. Die Sorge kann alle moralischen Räume erfüllen und auch die Fernen und Fremden erreichen. Dagegen ist der Radius der Sitten begrenzt.

      Sitten bestimmen den Alltag. In der alltäglichen Sorge zeigt sich auch die Sittlichkeit. Wenn das eigene Kind, der Partner oder die Partnerin oder der Nachbar krank sind und Hilfe brauchen, müssen wir uns nicht erst fragen, ob wir ihnen helfen sollen. Wir sorgen uns selbstverständlich um sie. Wir müssen nicht nachdenken, ob wir hilfsbereit sein sollen, weil es selbstverständlich ist. Die Hilfsbereitschaft ist zunächst etwas Selbstverständliches. Wenn jemand, den wir nicht kennen, Hilfe benötigt, werden wir erst nachdenken, ob wir ihm oder ihr helfen und uns um sie sorgen sollen. Dies ist ein erster, von der Sorge bewegter Schritt von der Sitte zur Sittlichkeit, von engeren regionalen Räumen zum weiteren moralischen Raum. Die Sittlichkeit ist ein grundlegender Maßstab ethischer Urteile. Die Ethik kann mit Hilfe von Prinzipien wie der Würde und der Gleichheit der Menschen begründen, warum es geboten ist, Fremden zu helfen. Eine Ethik kann die Frage beantworten, warum wir das, was uns im einen Fall selbstverständlich erscheint, in jeder ähnlichen Lage immer und überall genauso tun sollten oder nicht.

      Diese Frage ist noch einfach zu beantworten, weil sie sich auf die Sittlichkeit als selbstverständlich geltenden Maßstab beziehen kann. Die für die Sitten und die Sittlichkeit grundlegende Sorge für sich und die Anderen kann aber ein Problem werden, wenn es darum geht, ob wir etwas sollen, was gegen eine Sitte verstößt. Wenn es in einer Gesellschaft z. B. Sitte ist, dass Frauen schlechter als Männer behandelt werden, und eine Frau oder ein Mann dem ethischen Prinzip folgen will, dass Frauen und Männer gleiche Achtung und gleich respektvolle Behandlung verdienen, wollen sie etwas, was gegen eine geltende Sitte verstößt. Diesem Konflikt liegt die ethische Norm der Gleichheit der Geschlechter zugrunde, und diese Norm leitet sich vom Prinzip der Gleichheit aller Menschen ab.

      Der Schritt von den Sitten, die z. B. zwischen den Geschlechtern herrschen, und der Norm der Gleichheit der Geschlechter ist groß. Es ist ein Schritt von etwas Konkretem zu etwas Abstraktem, von einer Anschauung zu einem Begriff. Der Schritt ist nur möglich, wenn die Sitten sich kulturell verändert und weiterentwickelt haben und den Ansprüchen eines erweiterten moralischen Raums genügen. Die Gründe dafür können wir nur nachträglich mit Hilfe der Historiographie und Ideengeschichte verstehen. Nur die Sitten, die zur Sittlichkeit geworden sind, können zu einer Ethik werden.

      Die Sittlichkeit ist der Schritt von der Sitte zur Ethik. Sitten sind nur anschaulich präsent und über regionale Grenzen sittlicher Räume hinweg oft unverträglich. Deswegen sind sie als Grundlagen einer allgemein geltenden Ethik nicht geeignet. Die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Sitten und Ethik können wir aber nicht ignorieren, weil nur Sitten die Kraft haben, das Verhalten bewusst und unbewusst zu leiten. Keine Ethik hat diese Kraft. Eine Ethik kann gute Gründe für Motive liefern, die moralisches Verhalten bewegen sollten. Eine Ethik kann auch nachträglich Handlungen und Handlungsweisen begründen, rechtfertigen oder kritisieren. Sie kann moralisches Handeln aber nur indirekt motivieren. Die Sittlichkeit nimmt dagegen die bewegende Kraft der Sitten auf, verstärkt oder schwächt sie und lenkt sie in einer Richtung, die moralisch anspruchsvoll ist. Die Sittlichkeit muss ihrerseits zur Sitte werden, damit sie als Ethik wirksam werden kann.

      Den Mangel an motivierender Kraft ethischer Theorien können wir indirekt daran erkennen, dass keine dieser Theorien eine überzeugende, nicht-tautologische Antwort auf die Frage geben kann, warum wir moralisch handeln sollen. Die Forderung, dass wir moralisch handeln sollen, weil es geboten ist, moralisch zu handeln, weil wir es sollen und weil es eine Pflicht ist, kann nicht befriedigen. Sie ist nicht nur tautologisch, sondern verweist auf die Begriffe des Sollens und der Pflicht. Begriffe können aber nicht motivieren. Würden wir uns darauf verlassen,


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