Tatort Oberbayern. Jürgen Ahrens
»Birgit, was hast du Geiles herausgefunden?«, fragte Katharina weisungsgemäß.
Wenige Sekunden später starrte sie auf die Fotos, die ihre Freundin ihr auf den Schreibtisch geknallt hatte.
Samstagvormittag,
Breitbrunn am Chiemsee
»Ziemliche Silikon- und Botoxdichte, würde ich sagen.« Die geschmacklose Bemerkung, die Horst Riebelgeber Katharina am Grab von Lukas Adelhofer meinte, ins Ohr flüstern zu müssen, wurde begleitet von dem feinen Schweißaroma, das Riebelgeber stets umgab. Seine persönliche Note wurde noch durch eine kräftige Knoblauchfahne unterstützt, die dafür sorgte, dass Katharina nach einem knappen »hm« angewidert den Kopf wegdrehte.
Inhaltlich hatte Riebelgeber allerdings vollkommen recht.
Nach Einheimischen sah es hier nicht aus. Und immerhin standen nach Katharinas Schätzung rund 200 Menschen in einer riesigen Traube um das offene Grab von Lukas Adelhofer – weibliche Menschen zumeist. Bei der Trauerfeier in der Kirche war Katharina bereits aufgefallen, dass viele der Anwesenden weiblich und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht wegen des Toten gekommen waren – sondern, um mit beautiful Robert zu weinen und sich nach der Beerdigung vielleicht in Trauer mit ihm zu vereinen.
Die Auswahl an bizarren Begräbnis-Outfits legte solche Gedanken nahe. Tief dekolletierte schwarze Korsagen, engste schwarze Miniröcke über Netzstrumpfhosen, Stöckelschuhe, in denen die Füße der Trägerinnen fast senkrecht standen.
Birgit passte bestens dazu. Sie hatte sich unter die anderen Fans gemischt und trug ein kleines Schwarzes, bei dem das Adjektiv »klein« wörtlich zu nehmen war. Dazu schwarze Lack-Stilettos mit einer grünen Spitze aus Krokodilimitat und eine Strumpfhose mit schwarzen Kreuzen – wohl eine Referenz auf die Beerdigung.
Zumindest eine Frau auf dieser Beerdigung war nicht aufreizend gekleidet.
Es musste Roberts und Lukas’ Mutter, Rosa Adelhofer, sein. Katharina hatte sie auf Fotos in Homestorys der verschiedenen Klatschblätter gesehen. Sie schaute traurig in die Kamera und versuchte freundlich zu lächeln, was aber missglückte. Im Moment stand sie – den Kopf tief nach unten gebeugt – vor dem offenen Grab und klammerte sich an die Rose, die sie ihrem Sohn gleich als letzten Gruß auf den Sarg werfen würde. Ihr Gesicht konnte Katharina nur von der Seite sehen. Insgesamt wirkte die komplett in Schwarz gekleidete Gestalt gefasst. Kein Schluchzen war von ihr zu hören, kein Beben der Schultern zu sehen. Sie schien die ganze Trauer mit der Rose zu teilen, die sie in den Händen hielt – und anscheinend nicht ins Grab werfen wollte.
Die Grabrede des Pfarrers war gerade zu Ende. Jetzt würden Angehörige und Trauergäste vor den Sarg treten und sich von dem Toten verabschieden. Offenbar sollte Rosa Adelhofer die Erste sein. Sowohl Robert, der links von ihr stand, als auch Roberts und Lukas’ Vater Max rechts von ihr versuchten, sie mit kleinen Stupsern dazu zu bewegen, die Zeremonie zu beginnen. Rosa schien das nicht zu bemerken. Sie war offenbar völlig in sich versunken.
Irgendwann entschloss sich Robert, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Er trat vor und warf seine Rose auf den Sarg. Anschließend erwies er seinem toten Bruder durch eine kurze Verbeugung die letzte Ehre und gab seinem Vater ein Zeichen, das Gleiche zu tun.
Anschließend unternahmen beide einen letzten Versuch, Rosa Adelhofer vom Grab wegzuholen – vergeblich. Sie zeigte keinerlei Reaktion auf das, was ihr Mann und Sohn ins Ohr flüsterten, blieb vor dem Sarg stehen, den Kopf gesenkt, die Rose fest in der Hand.
Schließlich gaben Robert und Max auf und traten zur Seite, um den anderen Trauergästen den Zugang zum Grab zu ermöglichen.
Es begann eine langwierige, stumme Prozession zum Sarg. Anschließend kondolierte jeder und jede Anwesende Robert und seinem Vater. Katharina stellte fest, dass die Blicke vieler Damen alles andere als traurig wirkten, wenn sie Robert die Hand schüttelten. Der selbst war entweder tatsächlich bewegt oder er spielte seine Rolle sehr gut. Er stand mit Tränen in den Augen an der Seite seines gramgebeugten Vaters. Max Adelhofer schaute zu Boden und erwiderte jeweils kurz und mechanisch jeden Händedruck. Robert hatte für diesen Anlass den Designer-Anzug mit dunkler Tracht getauscht und trug wie sein Vater eine dunkelbraune Lederhose, schwarze Haferlschuhe und einen grauschwarzen Trachtenjanker.
Katharina und Riebelgeber hatten sich inzwischen eingereiht in die Kondolierenden.
Ein absurdes Bild, dachte Katharina, wie die beiden Männer dastanden, Hände schüttelten und Rosa Adelhofer den Lebenden den Rücken kehrte.
Nun war sie an der Reihe und drückte zuerst die feuchte Hand von Max Adelhofer. Der alte Mann blickte weiterhin starr vor sich auf den Boden.
Roberts Hand war angenehm trocken, warm, ein fester, selbstsicherer Händedruck.
Genauso selbstsicher wie unpassend schaute Robert Katharina tief in die Augen, während sie »mein Beileid« murmelte. Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »In 20 Minuten im Jesusstüberl im Adler.« Katharina nickte kurz und trat zur Seite.
Die Trauergesellschaft löste sich langsam auf, ein Leichenschmaus war nicht vorgesehen. »Nach der Trauerfeier bitten wir Sie, die Privatsphäre der Familie Adelhofer zu akzeptieren« – das stand in den Todesanzeigen, die Katharina am Morgen in zahlreichen großen Tageszeitungen gelesen hatte. Dies hielt allerdings diverse tief dekolletierte Damen nicht davon ab, mit »Robert, Robert«-Rufen die Aufmerksamkeit des trauernden Bruders zu gewinnen. Manche streckten ihm sogar Autogrammkarten und Stift entgegen. Robert lächelte gequält in Richtung seiner Fans und flüsterte ein »heute nicht«. Achim Wedel besorgte den Rest und schickte die Frauen bestimmt weg. Adelhofer näherte sich unterdessen den wartenden Fotografen und Journalisten.
Max Adelhofer ging mit gesenktem Kopf in Richtung Parkplatz. Dass seine Frau mitkommen würde, hatte er wohl aufgegeben.
Die stand nach wie vor am Grab und hielt ihre Rose fest umklammert. Katharina tat sie unendlich leid. Aus einem spontanen Impuls ging sie auf die alte Frau zu und flüsterte ihr ins Ohr: »Über Ihre Rose würde sich der Lukas bestimmt am meisten freuen, Frau Adelhofer.«
Rosa Adelhofer schaute kurz zu Katharina und der Hauch eines Lächelns zog über ihr Gesicht. Sofort fiel sie in ihre vorige Haltung zurück, den Blick aufs Grab gerichtet, die Rose fest in der Hand.
Katharina ging lustlos zu dem Journalistenpulk hinüber, der sich um Robert und seinen Manager drängte.
Riebelgeber hatte es bis nach vorne zu beautiful Robert geschafft und Katharina stellte sich vor, welche Gerüche sich mit Adelhofers edlem Parfum mischten.
Heike Ballinger vom Klatschblatt »Szene« stand direkt bei Adelhofer. Die tief dekolletierte schwarze Korsage und die enganliegende schwarze Lederhose waren nicht das Outfit, das zu einer Beerdigung passte, aber Feingefühl zu zeigen, war auch nicht ihr Job, wie sie sofort bewies:
»Du, Robert, das ist bestimmt eine unheimlich schwierige Situation für dich, so die emotionale Verarbeitung und so. Aber glaubst du nicht, dass du durch deine treuen Zuschauer und Fans Unterstützung bei deiner Trauerarbeit kriegen könntest? Also, ich meine, wenn du einfach das machst, was du immer machst – eine Sendung. Weißt du, um ein Stück weit Normalität reinzubringen trotz deiner Traumatisierung …«
Die Sache könnte abgesprochen sein, dachte Katharina. In Roberts Blick lag sowohl tiefe Trauer als auch der gequält-bemühte Versuch, Heike zuzuhören.
Als Heike Ballinger fertig war, sagte Robert: »Danke, Heike, für deine einfühlsamen Worte. Ich habe natürlich darüber nachgedacht, ob eine Sendung zu Ehren meines toten Bruders meinen Eltern und mir vielleicht helfen könnte. Wir werden das im Familienkreis besprechen, ihr alle seht, wie sehr meine Mutter leidet. Ich werde nur das tun, was gut für sie ist und womit sie einverstanden ist.«
An dieser Stelle huschte ein kleines bedauerndes Lächeln über sein Gesicht: »Daher muss ich Sie alle um Verständnis bitten, dass ich mich jetzt um meine Familie, vor allem um meine Mutter kümmern muss.«
Katharina ließ Adelhofer gehen und folgte ihm nach ein