Zur Sache, Schätzchen. Reinhold Keiner
das damalige Lebensgefühl – vor allem der jungen Generation – hatte. ‚Zur Sache, Schätzchen’ wurde 1968, nach seiner Uraufführung Anfang Januar, nicht nur der Überraschungserfolg an den Kinokassen, er wird heute als ‚Der Kultfilm der 68ziger – der 68ziger Kultfilm’ etikettiert.
Im kulturellen Bereich entstanden in diesem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Westdeutschland viele neue Bewegungen und gerade der Film wurde durch das so genannte Oberhausener Manifest vollkommen neu definiert. Ausgangspunkt dieser filmischen Erneuerung war die Stadt München, wo viele der Vertreter des ‚Oberhausener Manifests’ wohnten und arbeiteten, ebenso wie die Regisseure der ‚Neue(n) Münchner Gruppe’, die bereits wieder eine neue, jüngere Generation von Filmemachern repräsentierten. Zu dieser Generation – und zur ‚Neue(n) Münchner Gruppe’ – gehörte auch die Filmemacherin May Spils, die ihren Wohnort, den Münchner Stadtteil Schwabing, auch zum vorrangigen Drehort ihres ersten Spielfilms machte.
Fast 40 Jahre nach den Dreharbeiten beschäftigte sich die Studentin Lisa Wawrzyniak in einer wissenschaftliche Arbeit am ‚Institut für Germanistik’ der ‚Justus-Liebig-Universität Gießen’ mit den Zeitgeist-Spiegelungen und Zeitgeist-Anregungen dieses Films – im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse dieses ‚Jungen Deutschen Films’. Nach einer ‚Analyse der Filmfiguren’, der Behandlung der ‚Berufe der Filmfiguren’ und einer Beschreibung der ‚Milieus der Filmhandlung’ reflektierte die Arbeit u. a. auch über ‚Normen, Regeln und Moralvorstellungen’ und die dargestellten ‚Sozialbeziehungen’. Ein essenzieller Bestandteil der Arbeit war der Sequenzplan, anhand dessen sich viele Äußerungen und getroffene Feststellungen detailliert nachprüfen ließen. Zugleich gab der Sequenzplan den Inhalt des Films wieder. Die verwendete Sprache in ‚Zur Sache, Schätzchen’, konkret die seiner Hauptfigur, wurde in einem eigenen Kapitel thematisiert, da viele der benutzten Wörter und Sätze in den allgemeinen Sprachschatz vorwiegend der jungen Generation eingingen.
Die wissenschaftliche Arbeit wurde die Grundlage dieses Buches, gemeinsam überarbeitet und ergänzt durch Lisa Wawrzyniak und Reinhold Keiner. Die Arbeit am ‚Schätzchen’-Buch wurde so ein Zwei-Generationen-Projekt, trafen sich doch hier nicht nur Tochter und Vater, sondern auch ein ‚hartnäckiger’ Vertreter der ewig verspäteten ‚Generation Z’ 1 und eine Vertreterin der – allerdings hier westdeutschen – ‚Generation 89’, die ihre entscheidenden Sozialisations- und Bildungserfahrungen nach dem Zusammenschluss der bis 1989 getrennt existierenden deutschen Staaten machte.
Schlichen die älteren Angehörigen der ‚Generation Z’, auch ‚Zaungäste’ genannt, in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vorrangig in die Kinos, um sich in den ‚Schulmädchenreports’ und den so genannten Aufklärungsfilmen neueste Informationen über den soziokulturellen Stand der Dinge einzuholen, entsprach ein Film wie ‚Zur Sache, Schätzchen’ eher dem gegen die Elterngeneration revoltierenden Grundgefühl der älteren Geschwister, kamen die Angehörigen der ‚Generation 89’ schon nicht mehr in den Genuss dieses Films, da er in den Kinos nicht mehr lief, schlichtweg mittlerweile fast völlig unbekannt war – und weitgehend immer noch ist, trotz gelegentlicher Ausstrahlung in den ‚Dritten Programmen’ der Öffentlich-Rechtlichen Fernsehanstalten. Ein häufig wiederkehrendes Déjà-vu-Erlebnis: Spricht man Angehörige der ‚Generation 89’ und auch jüngere Generationen auf diesen Film an, erhält man häufig die Antwort, dass es sich doch wohl um einen ‚Softporno’ handele, wird cineastisch leichtsinnig von einem unter Marketing-Gesichtspunkten überaus erfolgreichen Titel auf den Inhalt des Films zurückgeschlossen.
Rebellion und Autoritätskonflikt, die in ‚Zur Sache, Schätzchen’ eine wesentliche Rolle spielen, sind für die auf die ‚Generation Z’ folgenden Generationen bereits Fremdwörter aus einem anderen Jahrhundert geworden – gehören Lebenserfahrungen mit gesellschaftlichen Brüchen, sozialen Konflikten und harten persönlichen Auseinandersetzungen für diese Generation nicht mehr zum wesentlichen ‚Schmierstoff’ der eigenen biografischen Entwicklung. Die Vertreter der ‚Generation Z’ schauen dagegen eher mit verklärten Blicken auf einen Film, der eine Sehnsucht nach einer persönlichen Freiheit postulierte, die so wohl nur Mitte der 1960er Jahre darstellbar und forderbar war, während sie selbst bereits einige Jahre später schon auf dem Rückzug in die ‚Neue Innerlichkeit’ endloser beziehungstheoretischer Selbstanalysen waren.
Zur besseren Schilderung des damaligen Zeitgefühls – hier konkret: in München-Schwabing – und der ergänzenden Darstellung der Hintergründe der Entstehung des Films befindet sich im Anhang des Buches ein Interview mit dem Produzenten von ‚Zur Sache, Schätzchen’, Peter Schamoni. Sein Hauptdarsteller und Mit-Drehbuchautor, Werner Enke, erhielt ein eigenes Kapitel, eine so genannte Biografische Skizze, die im Wesentlichen auf einem Interview beruht, das, wie auch das Peter Schamoni-Interview, digital aufgezeichnet, anschließend transkribiert und bearbeitet wurde.
Im Anhang abgedruckt ist auch eine protokollarische Drehbuchfassung des Films, die zum ersten Mal 1968 in einer Ausgabe der Zeitschrift ‚Film’ abgedruckt wurde, redigiert von dem in München lebenden Filmjournalisten Klaus Eder.
Die Zitate und die protokollarische Drehbuchfassung wurden in moderater Weise der aktuellen deutschen Rechtschreibung angepasst. Die Jahreszahl bei der Erwähnung von Filmtiteln bezieht sich immer auf das Datum der Uraufführung des jeweiligen Films.
Das Buch wäre ohne die engagierte Mitarbeit von Werner Enke und des Produzenten Peter Schamoni in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen. Ihnen gilt unser besonderer Dank sowie Frau Uschi Rühle vom ‚Deutschen Filminstitut – DIF’ in Frankfurt am Main für Hilfestellung bei der Zusammenstellung der Auswahlbibliografie. Cornelius Lemke kümmerte sich um die korrekte technische Abwicklung für die digitale Aufzeichnung der Interviews. Bernd Brehmer vom Münchner ‚Werkstattkino’ begab sich – erfolgreich – auf ‚Ausgrabungsarbeiten’ nach einem Handzettel für die Filmreihe ‚Frühling in München’ aus dem Jahr 1998. Gert Bühringer vom SWR erinnerte sich in einem Telefonat mit einem Schmunzeln an die Dreharbeiten eines von ihm 1989 realisierten Fernseh-Porträts über Werner Enke; eine Kopie der Sendung stellte er freundlicherweise auf einer DVD zur Verfügung. Klaus Eder gab dankenswerterweise sein Einverständnis zum erneuten Abdruck seiner protokollarischen Drehbuchfassung aus dem Jahr 1968. Dr. Udo Engbring-Romang las die verschiedenen Entwürfe der Arbeit und brachte sich mit vielen Anregungen in das Projekt ein. Silke Rappelt übernahm Umschlaggestaltung und Satzarbeit, wie immer kreativ, akribisch und engagiert!
Faksimile des ,Oberhausener Manifests‘
Das ‚Oberhausener Manifest’ und der ‚Junge Deutsche Film’
‚Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.’ So endet das so genannte Oberhausener Manifest, das am 28. Februar 1962 26 Literaten, Künstler und Kurzfilmregisseure während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfilmtage Oberhausen’ unterzeichneten – unter ihnen Rob Houwer, Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Haro Senft, Franz-Josef Spieker, Hans Rolf Strobel, Heinz Tichawsky und Herbert Vesely1:
Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten, Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. 2
Das ‚Oberhausener Manifest’ proklamierte revolutionär-ideologische Vorstellungen vom neuen Kino. Ein ‚neuer’ deutscher Film wurde ausgerufen.
Im deutschen Film nach 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, gab es keinen formalen und inhaltlichen Neuanfang. Das Ensemble, das schon den nationalsozialistischen Film gestaltet hatte, von den Darstellern über die Regie bis zum technischen und künstlerischen Personal, fand sich weitgehend – fast eins zu eins – im westdeutschen Nachkriegsfilm wieder. Auf der Leinwand dominierte, von einigen so genannten