Zur Sache, Schätzchen. Reinhold Keiner
und (Post-)Adenauer-Ära waren abgewandt von den Konflikten einer sich entwickelnden modernen Gesellschaft.
‚Einheitsware’ beherrschte den deutschen Filmmarkt: Heimatfilme, Schlagerfilme, Lustspiele, Kriminal- und Abenteuerfilme dominierten auf der Kinoleinwand. Am kommerziell erfolgreichsten wurden, in den 1960er Jahren, Filmserien nach literarischen Vorlagen der Autoren Edgar Wallace und Karl May. Die Filmserien setzten dem doch eher grauen Alltag der 1950er- und 1960er Jahre reichlich Exotik und Fremdheit gegenüber und wurden so zum filmischen Spiegel einer verunsicherten Gesellschaft. ‚Deutsche Helden’ sah man nun häufig als so genannte Westmänner im amerikanischen ‚Wilden Westen’ oder als Mitarbeiter der legendären Londoner Polizei Scotland Yard agieren. Das Kinopublikum dieser Zeit flüchtete in die Sicherheit einer festgefügten filmischen Welt, in die reine Unterhaltung.3
Neben den Aspekten Exotik und Fremdheit tauchte in den Filmen der Zeit ein weiteres Phänomen auf: Fernweh. Zahlreiche Filme boten dem Zuschauer die Möglichkeit, einer Heimat zu entfliehen, die ihm klein und provinziell erschien und die mit einer längst noch nicht verarbeiteten Vergangenheit zu kämpfen hatte. Schiffe, Flughäfen und Bahnhöfe wurden zu beliebten filmischen Locations und die große weite Welt den daheimgebliebenen Filmzuschauern in schönen Postkartenbildern gezeigt. Dabei wurde jedoch vor keinem nationalen Stereotyp zurückgeschreckt und in der ‚filmischen’ Ferne meldete sich immer wieder die Sehnsucht nach der verlassenen Heimat.4
Nur wenige Filmproduktionen dieser Zeit thematisierten kritisch die jüngste deutsche Vergangenheit, den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen. Filme wie ‚Es geschah am 20. Juli’ (1955) von G. W. Pabst, der das fehlgeschlagene Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 behandelte, ebenso wie der zeitlich parallel gedrehte Falk Harnack-Film ‚Der 20. Juli’ (1955), oder ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959) von Wolfgang Staudte, ein Film über die personelle Kontinuität vom Nationalsozialismus in das vermeintlich ‚entnazifizierte’ Deutschland‚ fanden zwar Zuschauer, blieben thematisch aber eher die Ausnahme. Das Genre des deutschen Kriegsfilms erlebte Ende der 1950er Jahre seinen Höhepunkt mit der Produktion ‚Hunde, wollt ihr ewig leben’ (1959).
Die Mehrheit der bundesrepublikanischen Zuschauer erfreute sich an Heimatfilmen wie ‚Schwarzwaldmädel’ (1950), der ersten deutschen Farbproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg und der ‚Klassiker’ der Heimatfilmwelle der 1950er Jahre, oder an ‚Grün ist die Heide’ (1951), dem größten Filmerfolg der Kinosaison 1951/52. Beide Filme drehte der Regisseur Hans Deppe; die Hauptdarsteller Sonja Ziemann und Rudolf Prack wurden ein weiteres Traumpaar des Kinos der Adenauer-Ära, neben z. B. Maria Schell und O. W. Fischer sowie Ruth Leuwerik und Dieter Borsche. Manfred Barthel, der über drei Jahrzehnte den deutschen Nachkriegsfilm als Filmkritiker, Dramaturg und Produktionschef beim Gloria- und Constantin-Filmverleih begleitete, über diese Zeit:
Für die nächsten Jahre hieß das Rezept für Kassenerfolge: ‚Das Vaterland ist tot, es lebe die Heimat. Vergesst das Volkstum - seid volkstümlich.’ Um es im Branchen-Jargon der damaligen Zeit zu sagen: Es wurden Heimatfilme gedreht, dass die Heide wackelte. […] Die dramaturgische Ausbeute der Volkslieder-Sentimentalität war nicht nur ein Treffer ins deutsche Kinogänger-Gemüt, sondern mit ihr war auch ein Themenkreis gefunden worden, in dem die deutsche Filmproduktion konkurrenzlos war. Heimatfilme waren das einzige, was der deutsche Film der ungebremsten Flut ausländischer Filme entgegensetzen konnte, ohne einen Qualitäts-Vergleich riskieren zu müssen, denn dergleichen hatte das Ausland nicht zu bieten. 5
Der größte Skandal des deutschen Nachkriegsfilms wurde der von Willi Forst inszenierte Film ‚Die Sünderin’ (1950) – aufgrund einer kurzen Nacktszene der Schauspielerin Hildegard Knef und der filmischen Thematisierung von Prostitution und Selbstmord. Rolf Thieles Film ‚Das Mädchen Rosemarie’ (1958), in dessen Mittelpunkt eine Prostituierte stand und ein weiterer Skandalfilm der Wirtschaftswunderzeit, war dagegen eher ein plakativer Bilderbogen über den Aufstieg und Fall einer Lebedame, ein satirischer Politthriller ohne kritische Aussage, und, so eine zeitgenössische Kritik, „statt Einsichten zu vermitteln, kapriziert sich der Film darauf, sein Publikum das Gruseln zu lehren. […] Alles in allem: ein Film, der die herrschenden Tabus nicht bricht, sondern sie befestigt, indem er um sie herumredet als gäbe es sie nicht.“6 Internationales Renommee erreichte nur der 1959 uraufgeführte Antikriegsfilm ‚Die Brücke’, realisiert von dem Schauspieler und Regisseur Bernhard Wicki. ‚Die Brücke’ wurde mehrfach ausgezeichnet und auch 1960 für den ‚Oscar’ nominiert, in der Kategorie ‚Bester ausländischer Film’.
Mitte der 1950er Jahre erreichten die Film-Produktions- und Kino-Besucherzahlen ihren Höhepunkt. 1955 wurden 128 Spielfilme produziert, elf Jahre später, 1966, nur noch 60. Während man 1956 noch 817,5 Millionen Kinobesucher pro Jahr zählte, waren es 1967 nur noch 243 Millionen. Ein Grund für die stark absinkenden Zuschauerzahlen war, dass die Kinobesucher immer jünger wurden. Die Altersgruppe, die 1961 regelmäßig ins Kino ging, waren die 16- bis 29-Jährigen, von diesen wiederum am häufigsten die 16- bis 24-Jährigen. Die ältere Generation, die in den 1950er Jahren noch das Gros der Kinobesucher gestellt hatte, entdeckte das so viel bequemere neue Massenmedium Fernsehen für sich. Immer mehr Kinos mussten ihren Geschäftsbetrieb aufgeben: 1960 gab es noch 6.950 ortsfeste Filmtheater, 1969 nur noch 3.739.7
Der wirtschaftliche Niedergang im westdeutschen Film beschleunigte sich auch durch die Schließung von bis dahin erfolgreichen Filmproduktionsfirmen: So stellte 1961 die Göttinger ‚Filmaufbau’, die von 1949 bis 1961 rund 100 Filme hergestellt hatte, darunter auch etliche künstlerisch anspruchsvolle Filme wie zum Beispiel ‚Liebe 47’ (1949), ‚Königliche Hoheit’ (1953), ‚Wir Wunderkinder’ (1958), ‚Buddenbrooks’ (1959), ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959), ihren Produktionsbetrieb ein; die beiden größten westdeutschen Produktionsfirmen, die ‚Ufa’ und die ‚Deutsche Film Hansa’, vereinigten sich zwar zur ‚Ufa-Film-Hansa’, aufgrund großer finanzieller Verluste brach diese neue Produktionsgemeinschaft aber schon im Januar 1962 wieder zusammen. Der deutsche Marktanteil im Kinogeschäft sank auf 28,5 %.
Auch international konnte der deutsche Film kaum reüssieren; so wurden zum Beispiel alle fünf von der Bundesrepublik Deutschland für die ‚Biennale’ 1961, die ‚22. Internationalen Filmfestspiele Venedig’, angebotenen Filme von der venezianischen Auswahlkommission abgelehnt – ein ‚Schicksal’, das die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr allerdings mit Schweden, Spanien und Argentinien teilte.
Das Verblassen des in den 1950er Jahren durchaus vorhandenen Starkultes, das immer mehr absinkende künstlerische Niveau der Filme, das Ausbleiben großer ‚künstlerisch wertvoller’ Filme und das Vorherrschen anspruchsloser Konfektionsware von Serienfilmen ließen die deutsche Filmwirtschaft in eine tiefe wirtschaftliche und künstlerische Krise schlittern. Für die neue, junge Generation der Kinogänger fehlten – in der Bundesrepublik Deutschland – am Anfang der 1960er Jahre die Identifikationsangebote, sowohl an Stars als auch an zeitgemäßen Inhalten.
Während selbst einige bundesdeutsche Politiker den deutschen Filmproduktionen inhaltliche und formale Einfallslosigkeit bescheinigten, gab es – teilweise bereits seit den 1950er Jahren – im europäischen und außereuropäischen Ausland künstlerisch einen Aufschwung oder eine Neuorientierung. Es entstanden neue Filmbewegungen wie die ‚Nouvelle Vague’ in Frankreich und das ‚Free Cinema’ in Großbritannien. Auch in Polen und der Tschechoslowakei realisierten junge Regisseure ihre ersten abendfüllenden Spielfilme. In Brasilien formierte sich in den späten 1950er Jahren das ‚Cinema Novo’ und in den USA entstand das ‚New American Cinema’. Dies war aber keine einheitliche Bewegung.
So fühlte sich das ‚Free Cinema’ in Großbritannien britischen Traditionen verpflichtet, z. B. dem Dokumentaristen Humphrey Jennings, und der italienische Film knüpfte an den Neorealismus und sein Hauptthema an, die Verbundenheit des Menschen mit seinem sozialen Milieu und mit der Natur. Die französische ‚Nouvelle Vague’ betonte die Autonomie des Autors bei der Herstellung (s)eines Films, während die Bewegung an der amerikanischen Ostküste deutlicher als alle anderen mit bestehenden Traditionen brach und folgerichtig auch immer eine ‚oppositionelle Schule’ blieb, außerhalb des Systems der amerikanischen Filmwirtschaft.8
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