Zur Sache, Schätzchen. Reinhold Keiner
Der Film zeichnete sich zwar durch einen – für die damaligen Zuschauer – gewöhnungsbedürftigen formalen Rigorismus aus und hatte, auch aufgrund seiner Fragmentstruktur, seiner elliptischen Form, nur wenig gemein mit den üblichen Literaturverfilmungen, für die französische Filmzeitschrift ‚Cahiers du Cinema’ war ‚Nicht versöhnt ...’ aber der größte deutsche Film seit den deutschen Filmen der Regisseure Fritz Lang und F.W. Murnau.25
Die eigentliche Wende im deutschen Film wurde aber erst das Jahr 1966. „Man sprach vom ‚Jahr eins’ und verglich das Jahr 1966 mit einem Dammbruch für den jungen deutschen Film [...] In einem Jahr kamen mehr junge Regieaspiranten zum Zuge als in der ganzen vorausgegangen Zeit.“26 Eine weitere Besonderheit: Die Filmemacher behielten die absolute künstlerische und finanzielle Kontrolle über ihre Arbeiten.
Der erste Spielfilm des ‚Jungen Deutschen Films’, der eine breitere Öffentlichkeit erreichte und die ‚Deutsche Welle’ im Kino in Bewegung setzte, war Ulrich Schamonis am 17. März 1966 uraufgeführter Film ‚Es’. Der Film erfüllte den Wunsch des mittlerweile vorwiegend jungen Kino-Publikums nach Realismus und Zeitbezogenheit; er erhielt – wie erwartet – in der ‚Filmkritik’ durch den Filmjournalisten Peter M. Ladiges seine positive Besprechung:
Bruno Dietrich und Sabine Sinjen in ‚Es‘
Schamoni setzt seinen Film aus Beiläufigem zusammen. Nirgends massiert sich das Geschehen zur Dramaturgie einer regelrechten Handlung. Alles Wichtige wird nur am Rande mitgeteilt. Die einzelnen Szenen wirken wie zufällig mit der Kamera beobachtet. Dennoch verliert sich die Geschichte nicht in Impressionen, sondern baut sich sehr konsequent aus den verschiedenen Momentaufnahmen auf. Diese erscheinen durch die Selbstverständlichkeit, mit der die Akteure vor der Kamera agieren und mit der diese sich bewegt, in hohem Maße authentisch. Daran mag es vor allem liegen, dass diese Geschichte, die eben nicht am roten Faden einer Handlung abgespult wird, in der Konzentration allein auf das Thema keinen Augenblick langweilig ist. 27
Charakteristisch für ‚Es’ war der hohe Anteil an dokumentarischen Aufnahmen. Wirkliche Ärzte erörterten vor der Kamera das Problem der Abtreibung. Zugunsten der Reflexionsebene unterbrachen Zwischentitel den Fluss der Handlung.28
Auch Volker Schlöndorffs Film ‚Der junge Törless’, Alexander Kluges Spielfilmdebüt ‚Abschied von gestern’ und der Film ‚Schonzeit für Füchse’ von Peter Schamoni kamen im Jahr 1966 in die Kinos und erregten – in allerdings unterschiedlicher Ausprägung – die Aufmerksamkeit des Publikums und der Filmkritik. ‚Der junge Törless’ und ‚Abschied von gestern’ wurden jeweils mit einer Drehbuchprämie von 200.000 DM des ‚Bundesministeriums des Innern’ gefördert, ‚Abschied von gestern’ bekam zudem noch 100.000 DM vom ‚Kuratorium junger deutscher Film’.
Die bisherigen Filme der ‚Oberhausener’ fanden auch internationale Beachtung. Im Mai 1966 wurde die Bundesrepublik Deutschland beim Filmfestival in Cannes durch ‚Es’ und ‚Der junge Törless’ vertreten, gewann jedoch keinen der offiziellen Festivalpreise.
Erst Alexander Kluges Film ‚Abschied von gestern’ erhielt einen offiziellen Preis, im September 1966 den ‚Silbernen Löwen’, den Spezialpreis der Jury, auf den Filmfestspielen in Venedig; darüber hinaus bekam er in Venedig noch sieben weitere Auszeichnungen, so u. a. den Preis ‚Luis Buñuel’ der spanischen Kritiker. ‚Abschied von gestern’ lief allerdings nicht als offizieller Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, sondern als von der Festspielleitung eingeladener Film.
Die internationale Anerkennung des ‚Jungen Deutschen Films’ zog die nationale Bestätigung nach sich. ‚Der junge Törless’ erhielt 1966 das ‚Filmband in Gold’ in der Kategorie ‚Abendfüllende Spielfilme’, ein weiteres ‚Filmband in Gold’ gab es für Volker Schlöndorff in der Kategorie ‚Bester Drehbuchautor’. ‚Es’ bekam in der Kategorie ‚Abendfüllende Spielfilme’ das ‚Filmband in Silber’, weitere Filmbänder gab es für: Sabine Sinjen (‚Beste Hauptdarstellerin’), Bruno Dietrich (‚Bester Nachwuchsschauspieler’), Gerard Vandenberg (‚Beste Kameraführung’). Auch ‚Schonzeit für Füchse’ wurde ausgezeichnet: Hans Posegga erhielt ein ‚Filmband in Gold’ in der Kategorie ‚Beste Filmmusik’, Edda Seipel ebenfalls ein ‚Filmband in Gold’ in der Kategorie ‚Beste weibliche Nebenrolle’. ‚Schonzeit für Füchse’ bekam zudem noch auf den Filmfestspielen in Berlin, der ‚Berlinale’, den ‚Silbernen Berliner Bär’, einen Sonderpreis der Jury.
Der ‚Junge Deutsche Film’ wurde zum Ausdruckmittel eines Individuums, seines Autors. Das Abwenden von der gängigen Kino-Illusionswelt und seine Realitäts- und Gegenwartsbezogenheit kennzeichneten fast alle Filme. War der deutsche Film vorher noch meistens ein Transportmittel für stereotype Inhalte gewesen, wurde er jetzt zum persönlichen Ausdruck ihrer Autoren, „als Selbstzeugnis, als Reflex von Empfindungen, als Assoziationsketten und als Gedankengebäude“.29
Für die Mehrzahl der jungen Filmemacher war eher ein gesellschaftskritischer als ein künstlerischer Ausgangspunkt für ihre Produktionen maßgebend. Sie wollten die Wirklichkeit abbilden und dadurch kritisieren. Die Themen stammten überwiegend aus dem Alltag und führten Durchschnittsmenschen vor.
Die Filme endeten in der Regel nicht mit einem Happy End oder einer Lösung des zuvor geschilderten Problems. Lieblingsthemen des ‚Jungen Deutschen Films’ waren vor allem die „... Anpassung an die Wohlstandsgesellschaft und die Folgen des Wirtschaftswunders, Konflikte zwischen einer jungen und einer älteren, noch von der NS-Zeit geprägten Generation, an Konsum gebundene Glücksvorstellungen, Eheprobleme und schließlich die Emanzipation der Frau.“30
Doch gerade das Konzept des Autorenfilms führte zu einer Vereinzelung der Regisseure und zu einer verstärkten Konkurrenz untereinander. Anders als in der französischen ‚Nouvelle Vague’ fehlte den ‚Oberhausenern’ eine gemeinsame cineastische Grundlage. Die Solidarität untereinander zerbrach rasch, nachdem die ersten Filme abgedreht waren – was auch schon von dem Filmjournalisten Joe Hembus 1967, also sehr frühzeitig, bemerkt wurde:
Was viele junge Filmemacher an der Fahne Junger Deutscher Film stört, ist just die Tatsache, dass sie sich unter ihr mit Kollegen treffen, mit denen sie um keinen Preis Tuchfühlung aufnehmen möchten. Der Reitz kann den Spieker nicht ausstehen, und der Schlöndorff kann an Es nichts finden, und der Straub distanziert sich überhaupt von allem, ausgenommen von Vlado Kristl, der seinerseits alle anderen als Kaputtmacher seiner großen Ideen schmäht. Es geht herrlich und wie in jeder funktionierenden Filmindustrie zu; auch in dieser Branche ist jeder eine Callas. 31
Nach den ersten euphorischen Stellungnahmen durch die – vorwiegend anspruchsvolle –Filmkritik und der ersten ‚Aufmerksamkeitswelle’ im Kino und auf Filmfestivals ging auch das Zuschauerinteresse an den Filmen der ‚Oberhausener’ schnell wieder zurück, wie insgesamt die Besucherzahlen in den Kinos immer mehr schwanden. Die Bilder, die der ‚Junge Deutsche Film’ seinen verbliebenen Zuschauern zeigte, waren diesen zu fad und oftmals zu unverständlich – die Filmemacher beschränkten die sinnliche, emotionale Erfahrung Kino auf die häufig zu offensichtlich didaktische Vermittlung von inhaltlichen Standpunkten, von Reflexionsvorschlägen und Sichtweisen. Bei der überwiegenden Masse des Kinopublikums wurde der ‚Junge Deutsche Film’ bald mit dem Etikett ‚Langweilig’ versehen.32
Auch die traditionellen Filmemacher und Produzenten reagierten nun – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – auf die filmischen Versuche der so genannten Jungfilmer. Es entstanden einige Filme, die gezielt Komponenten der damaligen Jugendkultur aufgriffen. Doch Partei für die Jugend ergriffen die etablierten Regisseure nicht. In allen Genres tauchten jugendfeindliche Klischees auf; der filmische Blick auf Söhne und Töchter war fast immer belehrend und teilweise sogar angewidert – wie Florian Vollmers fast am Ende des letzten Jahrhunderts bei einer Betrachtung über die Sozialgeschichte des Films der 1960er Jahre konstatierte:
In vielen Komödien tauchen junge, liebeshungrige Schwedinnen auf, und auch in der Edgar-Wallace-Reihe