Gamebreaker. Jean-Paul Thommen

Gamebreaker - Jean-Paul Thommen


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Strukturen, Prozesse und Spielregeln: Das ist Arbeiten im System.1 BPR adressiert ausschließlich die Optimierung im Management 1. Ordnung, tut dies aber auf eine sehr schwerfällige Art und Weise, die der zunehmenden Marktdynamik nicht gerecht werden kann.

      Die Grenzen der Prozess-Revolution zeigt fünfzehn Jahre später der Ökonom Eric D. Beinhocker auf:2 Das Konzept der Evolution sei nicht auf die Biologie beschränkt, sondern sei ein Algorithmus für die Innovation ganz generell und damit auch auf die Wirtschaft anzuwenden. Allerdings stelle sich das Problem, dass die Märkte beziehungsweise die wirtschaftliche Veränderung gerade in der heutigen Zeit hoch dynamisch sei – die meisten Unternehmen aber ganz und gar nicht. Ähnlich wie in der evolutionären Entwicklung der Natur sterben damit Unternehmens-Dinosaurier aus – sie werden von der wirtschaftlichen Evolution ausradiert, ohne die Chance, sich anpassen zu können.

Aus der PraxisWenn Branchenführer scheitern

      Die Digitalisierung erhöht die Veränderungsgeschwindigkeit in atemberaubendem Maße, stellt hohe Anforderungen an die Unternehmen und macht auch vor scheinbar unbestrittenen Branchenführern nicht halt. Ein bekanntes Beispiel ist Nokia. Anfang dieses Jahrhunderts war Nokia praktisch ein Synonym für die Mobiltelefonie. Noch 2005 sah das Unternehmen kein Problem in der Übernahme des Betriebssystems Android durch Google und optimierte weiter munter im System – und ignorierte die fundamentalen Marktveränderungen, die ein Arbeiten am System nahegelegt hätten, frei nach Mark Twain: «Nachdem sie das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen.» 2013 mussten die Finnen ihr serbelndes Handy-Geschäft an Microsoft verkaufen. Doch selbst die geballte Marktmacht des Softwareriesen half nichts – Android-basierte Mobilgeräte und iPhones von Apple dominieren heute den Markt. Dauerte es bei Nokia noch mehr als zehn Jahre, um den Branchenführer zu entmachten, dreht sich das Karussell heute wesentlich schneller. Noch werden Uber und Airbnb als Paradebeispiele für disruptive Geschäftsmodelle gefeiert, doch schon laufen sie Gefahr, selbst beiseitegefegt zu werden: Denn wer braucht schon diese milliardenschweren Unternehmen, wenn die Blockchain-Technologie den an der Transaktion Beteiligten die direkte Abwicklung erlaubt?

      Somit zeigt sich ein noch sehr viel größeres Defizit: Das Konzept der Evolution erfordert nicht nur eine hohe Anpassungsfähigkeit beim Arbeiten im System, was mit dem BPR-Maschinenmodell kaum zu leisten ist. Gefragt wäre darüber hinaus auch ein Arbeiten am System, um in der grausamen Evolutionsdynamik überleben zu können, in der die Schwachen und Langsamen gnadenlos weggefegt werden. Das Arbeiten am System, auch als «Management 2. Ordnung» bezeichnet, ist intellektuell und emotional enorm anspruchsvoll, denn hier geht es um das grundsätzliche Reflektieren über das eigene Geschäftsmodell. Es geht um nicht weniger als die Fähigkeit, sich selbst und die eigene Existenzberechtigung im Hinblick auf veränderte Markt- und Kundenerfordernisse in Frage zu stellen – und allenfalls die notwendigen fundamentalen Schlüsse zu ziehen und tiefgreifende Veränderungen einzuleiten. Das ist offensichtlich meilenweit von der im BPR propagierten Prozessoptimierung entfernt, bei der es ausschließlich darum geht, irgendeine Arbeit auf eine bestimmte Art oder ein bisschen anders zu erledigen.

      Diese Herausforderung gilt aber nicht nur für Unternehmen, sondern auch – wie noch zu zeigen sein wird – für jeden Einzelnen von uns. Denn Unternehmen und Mitarbeitende sind untrennbar miteinander verbunden: Ein Unternehmen als Ganzes wird diese Arbeit am System kaum erbringen können, wenn es die Mitarbeitenden zu mechanistischen «Prozesserfüllern» degradiert. Mitarbeitende wiederum werden es in einer auf Gehorsam und rigide Prozesserfüllung geprägten Kultur schwer haben, im Rahmen ihres Verantwortungsbereiches über das System nachzudenken und zu Gamebreakern zu werden – weil dies weder gewünscht noch belohnt wird.

      Für Unternehmen wie auch für jeden Einzelnen von uns ist es enorm anspruchsvoll, eine solche Geisteshaltung – also die Geisteshaltung des «Gamebreaking» – mit der entsprechenden Veränderungsbereitschaft aufrechtzuerhalten, denn Unternehmen wie auch Individuen streben nach Routine und Sicherheit. Zwar ist «Change», also der «Wandel», ein sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik hochgehaltenes und positiv konnotiertes Schlagwort, aber ein angelsächsisches Sprichwort entlarvt diesen Mythos treffend: «The only one who wants to have change is a wet baby.»

      Denn Unternehmen wie Menschen fühlen sich sehr viel weniger bedroht, wenn sie nur Vorgaben erfüllen oder über eine simple Prozessoptimierung nachdenken müssen als wenn sie sich selbst in Frage stellen sollen. Nur ist es gerade diese notwendige unternehmerische Herausforderung, das «Out-of-the-Box Thinking», welches Unternehmen das langfristige Überleben ermöglicht. Genau diese Herausforderung ist mit der Bedrohung durch die Digitalisierungswelle wesentlich wichtiger geworden – und wurde von der Prozessmanie in den Hintergrund gedrängt.

      Die Fixierung auf den Prozess lenkt auch nur allzu oft vom eigentlichen Unternehmenszweck ab: den Kunden einen Mehrwert zu erbringen. Wenig überraschend ist als Folge davon das Leben auch für sehr große und etablierte Unternehmen in den letzten Jahren härter geworden. Die Digitalisierung gewinnt zunehmend an Breite, Tiefe und Schnelligkeit. Einer Studie des Forschungsinstitutes Innosight zufolge schrumpft die Lebenserwartung der größten, im Index S&P abgebildeten US-Unternehmen bedenklich: Betrug die Lebenserwartung 1964 stolze 33 Jahre, reduzierte sie sich 2016 auf 24 Jahre und wird 2027 noch ganze 12 Jahre betragen.3

      Ganz offensichtlich befinden wir uns heute in einer Phase, in der sich die Veränderungsgeschwindigkeit so sehr erhöht hat, dass Optimierungen im System ein langfristiges Überleben nicht mehr garantieren. Auf die Erhöhung der allgemeinen Veränderungsgeschwindigkeit reagieren die meisten Unternehmen – neben der immer rigideren Prozessorientierung – mit dem Abbau von Kosten durch Offshoring, der Optimierung der Steuerbelastung oder ähnlichen Maßnahmen. Das ist gut nachvollziehbar – denn das Arbeiten im System ist in der kurzen Frist ein probates Mittel, um Wettbewerbsvorteile gegenüber Mitbewerbern zu erlangen. Es scheint auch sehr viel risikoloser, ein gut bekanntes Geschäftsmodell zu optimieren, als ein neues zu definieren und zu implementieren, denn die Gefahr des Scheiterns ist in diesem Fall wesentlich höher. Zudem lassen sich durch die Optimierung kurzfristig die Probleme überdecken – bis zum großen Kollaps.

      Allerdings ist die Wahrnehmung von Risiken oft trügerisch, wie das Beispiel der beiden Männer in der Wüste zeigt, die von einem Löwen bedroht werden. «Ich muss nicht schneller laufen als der Löwe», meint der eine zum anderen, «sondern nur schneller als du.» Zwar ist das nicht von der Hand zu weisen, doch gilt auch: In der Wüste gibt es noch andere Löwen – wie auch viele unbekannte zusätzliche Gefahren. Auf Unternehmen übertragen: Die betriebliche Effizienz zu erhöhen, um sich gegen bekannte Wettbewerber durchzusetzen, ist gut, aber keine Garantie dafür, dass man nicht durch disruptive, teilweise branchenfremde neue Konkurrenten sehr schnell obsolet wird.

      Unternehmen tun deshalb gut daran, sowohl für das Arbeiten im System als auch für jenes am System eine Haltung einzunehmen, die Evolution und Anpassung sozusagen in der DNA hat. Sie tun auch gut daran, auf das geballte Wissen, Können und Wollen ihrer Mitarbeitenden zu setzen – denn Innovation kommt nicht nur von oben nach unten. Ganz im Gegenteil: In Zeiten erhöhter Veränderungsgeschwindigkeit sind Innovationen durch kundennahe Mitarbeitende Gold wert – und traditionelle, langsame Wege zur Innovation (über Forschung und Patente) verlieren an Bedeutung (siehe Kapitel 7 «Gamebreaking und Fakebreaking» auf Seite 71). Die Mitarbeitenden ihrerseits tun gut daran, sich auf diese ganz persönliche Herausforderung einzustellen und zu Gamebreakern zu werden, damit sie eine berufliche Zukunft haben.

      Basierend auf dem Management 1. Ordnung, ausgerichtet auf die Strukturen und Prozesse des Unternehmens, ist ein Management 2. Ordnung vorzusehen, das im Allgemeinen sehr viel fundamentalere Veränderungen zur Folge hat. Quasi ein Metamanagement, welches das Geschäftsmodell und die ihm zugrundeliegenden Hypothesen permanent reflektiert und den sich verändernden Bedingungen anpasst, um die sich bietenden Möglichkeiten zum eigenen Vorteil zu nutzen.


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