Gamebreaker. Jean-Paul Thommen
Je weiter weg vom Zentrum, desto tiefer im Allgemeinen die Bezahlung, die Entscheidungskompetenz und – oft bedingt durch häufige Wechsel – auch das Wissen.
Diese Situation wird sich in den nächsten Jahren dramatisch ändern mit Chatbots, textbasierten «intelligenten» Dialogsystemen: Nach vielen holprigen Versuchen – etwa der 2016 stillgelegte Chatbot Anna von Ikea – werden sich die digitalen Helfer in den nächsten Jahren höchstwahrscheinlich durchsetzen. Mussten frühere Chatbots mühsam und mit viel menschlichem Aufwand trainiert werden, lernen heutige Chatbots dank Künstlicher Intelligenz beziehungsweise Machine Learning selbständig dazu – sie werden mit jeder Kundenanfrage «gescheiter».
Hinzu kommen enorme Fortschritte in den Natural-Language-Processing-Fähigkeiten (maschinelle Verarbeitung natürlicher Sprache) und Sentiment Analytics (Stimmungserkennung): Kombiniert mit einem Avatar (einer virtuellen Figur) werden Chatbots bald in der Lage sein, sich mit Menschen natürlich zu unterhalten, sich dabei situationsbeziehungsweise stimmungsgerecht zu verhalten und dank unbeschränktem Zugang zu relevanten Wissensdatenbanken zu (fast) allem Auskunft zu geben – und das rund um die Uhr, ohne Urlaub oder krankheitsbedingte Ausfälle und «brain drain» (Wissensschwund) bei Kündigungen.
Die allerbesten Chatbots in den Labors sollen bereits heute so gut sein, dass es schwer ist, sie im Dialog von menschlichen Wesen zu unterscheiden. Ein durchschnittlicher Chatbot hingegen versteht heute erst etwa 60 bis 70 Prozent der gesprochenen Sprache. Verbreitet sind deshalb vor allem Chatbots auf der Basis von Text.
Lidl setzt – aufbauend auf Facebook Messenger – die Chatbot «Margot» ein, die den Konsumenten in England zum richtigen Wein verhilft. Auf die Frage «Welche Burgunder können Sie mir empfehlen?» folgt prompt die Antwort der «persönlichen Favoriten» mit einem Mâcon Villages für 6.99 Pfund an der Spitze. Eine Spielerei? Vielleicht. Aber gemäß einer Studie des Forschungsunternehmens Spiceworks sind 2018 rund 40% der Großunternehmen dabei, solche Chatbots aufzuschalten. Denn wer obenauf schwingt, wird seinen Kunden einen so hervorragenden Service bieten können, der mit «normalen» Mitteln kaum finanzierbar wäre. Und wer früh beginnt, hat gute Chance, zum Gamebreaker in seiner Branche zu werden.
Lessons learned
■ Gamebreaking ist nicht neu, sondern war schon zu Duttweilers Zeiten gefragt. Durch die stark erhöhte Veränderungsgeschwindigkeit und tiefgreifenden Veränderungen ist die Notwendigkeit für Gamebreaking indes stark gestiegen.
■ Echte Gamebreaker können ihre Idee wie Duttweiler in einen Satz fassen: «Ich senke die Preise durch Ausschalten des Zwischenhandels und bringe die Produkte vor die Haustüre des Kunden.»
■ Gamebreaker erfinden neue Geschäftsmodelle, indem sie oft unnötige Stufen in der Wertschöpfungskette ausradieren (Zwischenhandel) und dem Kunden auf diese Weise einen Mehrwert bringen.
■ Gamebreaker stellen die Dinge auf den Kopf und lösen sich von Dingen, die «schon immer so gemacht wurden»: Nicht der Kunde geht in das Geschäft zu den Produkten, sondern die Produkte kommen zum Kunden.
■ Gamebreaker im Sinne von Disruptoren sind oft stark polarisierende, politisch nicht immer korrekte Menschen: Ein Fenster im Bundeshaus einzuwerfen ist eigentlich ein No-Go – das sollte aber nicht von der Leistung des Gamebreakers ablenken.
■ Dort, wo der größte Kundenschmerz ist, befindet sich die Stelle mit dem größten Disruptionspotenzial.
3 Es muss nicht immer Disruption sein
Gottlieb Duttweiler war ein Gamebreaker, der nicht nur eine ganze Branche revolutioniert hat (den Detailhandel), sondern als Politiker mit einer neu gegründeten Partei (Landesring der Unabhängigen) und einer Zeitung («Die Tat») enorm tiefe und breite Spuren hinterlassen hat. Diese Spuren wären noch heute wesentlich deutlicher, wenn die Nachfolger von Duttweiler mehr von seinem Geist geerbt hätten, was aber nicht der Fall ist. Fairerweise muss man sagen: Duttweiler war eine Jahrhundertfigur. Kann eine solche, in ihrem Anspruch und ihrer Wirkung erdrückende Jahrhundertfigur wirklich das Vorbild für modernes Gamebreaking sein? Schließlich ist nicht jeder von uns ein Duttweiler – und es ist auch nach dem Lesen dieses Buches nicht wahrscheinlich, dass Duttweilers gleich hundertfach aus dem Boden schießen.
Die Antwort darauf liegt in einer Begriffsklärung von Gamebreaking und Disruption. Der Harvard-Professor Clayton M. Christensen gilt als Erfinder des Begriffs «Disruptive Innovation», oft auch einfach als «Disruption» bezeichnet. Allerdings wird dieser Begriff allzu oft falsch verwendet, wie Christensen zu bedenken gibt. Er schlägt vor, drei Formen der Innovation auseinanderzuhalten.
1. Effizienz-Innovation: Ein Unternehmen verbessert die Produktion oder den Verkaufsprozess und erreicht damit dieselben Resultate, aber mit geringerem Aufwand und geringeren Kosten. Ein Autohersteller gestaltet die Herstellung effizienter, beispielsweise durch Automatisierung bestimmter Arbeitsschritte. Er reduziert damit die Herstellungskosten, verändert das Produkt aber nicht.
2. Inkrementelle Innovation4: Ein Unternehmen hat ein gutes Produkt und macht dieses Produkt über die Jahre immer etwas besser. Alle paar Jahre bringt der Autohersteller verbesserte Autos in derselben Modellreihe hervor. Grundsätzlich funktionieren die aber noch gleich: zum Beispiel Verbrennungsmotor, vier Räder, Steuerrad mit darum herum organisierten Armaturen.
3. Disruptive Innovation oder einfach Disruption: Ein Unternehmen befriedigt ein Marktbedürfnis durch einen völlig neuen Ansatz, beispielsweise, indem es den Verbrennungsmotor durch einen Elektromotor ersetzt und sich selbst weniger als Autobauer, sondern als Softwareunternehmen definiert, das bequeme und umweltfreundliche Mobilität ermöglicht.
Disruptive Unternehmen ersetzen (Dienstleistungs-)Produkte, die bis anhin sehr kompliziert oder teuer waren, durch ein anderes, häufig einfacheres, kostengünstigeres Produkt, das dann von den Kunden euphorisch aufgenommen wird. Christensen betont, dass nur mit dieser dritten Form ein starkes Marktwachstum stattfinden kann. Bei den beiden ersten Formen der Innovation kann das Unternehmen allenfalls seine Marge optimieren (Effizienz-Innovation) oder aber einen höheren Verkaufspreis erzielen (Inkremtentelle Innovation), weil das Produkt besser ist.
Interessanterweise betrachtet Christensen die beiden meistgenannten «disruptiven» Unternehmen, nämlich Airbnb und Uber, gerade nicht als wirkliche Disruptoren: Ihr Geschäftsmodell besteht darin, vorhandene Ressourcen (Wohnungen, Autos) besser zu nutzen – ein typisches Beispiel für eine inkrementelle Innovation.
Disruption geschieht in der Regel immer dann, wenn ein oft kleines, noch junges Unternehmen mit geringen Ressourcen ein erfolgreiches, bestehendes Geschäft mit einem völlig neuen Ansatz konkurrenziert. Die Chancen dafür sind im digitalen Zeitalter und auf der Basis neuer, flexibler und kostengünstiger IT-Bereitstellungsformen (siehe Praxisbeispiel Cloud auf Seite 30) besonders hoch. Traditionelle Unternehmen verstehen es oft schlecht, diese neuen Möglichkeiten zu nutzen, und das hat einen sehr einfachen Grund: Die Manager eines Unternehmens sind primär nicht dafür bezahlt, ihr bestehendes Geschäftsmodell, mit dem sie bis anhin sehr erfolgreich waren, grundsätzlich in Frage zu stellen (auch wenn sie das eigentlich müssten). Sie sind in der Realität dafür bezahlt, es zu optimieren, und das mit einer oft sehr kurzfristigen Perspektive. Ihr ganzes Denken und Streben ist, wie bereits in Kapitel 1 dargelegt, ausschließlich darauf ausgelegt, den nächsten Business Review zu überstehen – indem sie die Zahlen liefern (oder übertreffen), die angesagt wurden. Es wäre völlig ausgeschlossen, dass ein Manager bei solchen Reviews sagen würde: «Ich bin zwar 20% unter Budget und werde nächstes Quartal sogar 30% unter Budget sein. Dafür habe ich einen revolutionären Ansatz gefunden, wie ich mittelfristig unsere Kunden begeistern, die Umsätze steigern und unsere Marge stark erhöhen kann.» Das wäre sein sicheres Ende.
Wie in der Automobilindustrie konzentrieren sich etablierte Unternehmen oft darauf, Produkte inkrementell besser zu machen und ihre Produkte und Dienstleistungen für jene Kundensegmente zu