Gamebreaker. Jean-Paul Thommen

Gamebreaker - Jean-Paul Thommen


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Unternehmen genügt, sich bewusst sein, dass man ein zweifaches Risiko eingeht: abgebaut zu werden oder – noch schlimmer – mit dem in der Prozessmanie erstarrten Unternehmen unterzugehen. Gefragt ist deshalb eine Kultur des Gamebreaking von Managern und Mitarbeitenden.

      

Aus dem Gruselkabinett der Anti-Gamebreaker: Forecast Calls, Reporting, Country Reviews

      Wie kann ein Unternehmen zu einem Gamebreaker werden? Der erste Schritt dazu ist, lieb gewordenes Verhalten abzulegen, das eine echte Gamebreaker-Haltung verunmöglicht. Viele traditionelle Großunternehmen funktionieren nämlich nach einem ganz einfachen Führungsgrundsatz, den man als «Predict and control» bezeichnen könnte. Die Zentrale macht Vorgaben, die Geschäftseinheiten und Landesorganisation haben zu liefern und werden akribisch und permanent kontrolliert. Die entsprechenden Führungsinstrumente dafür sind Forecast Calls, ein aufwendiges, mindestens wöchentliches Reporting und Country oder Business Reviews.

      Das Prinzip und die Führungsinstrumente scheinen auf den ersten Blick sinnvoll – bei näherem Betrachten verkörpern sie vieles von dem, was Großunternehmen daran hindert, langfristig erfolgreich zu sein. Aus jahrzehntelanger eigener Erfahrung eines Autors dieses Buches lassen sich fünf Anti-Gamebreaking-Axiome ableiten:

      Axiom 1 – Defokussierung: Je schlechter es einem Unternehmen geht, desto mehr setzt es auf «Predict and Control»-Mechanismen. Diese verschärften Kontrollmechanismen werden eingeführt mit der scheinbar einleuchtenden Begründung, verstehen zu wollen, was schiefläuft. Das hat aber verheerende Folgen, denn es bindet enorm viele Ressourcen, ohne dass ein Kunde einen Vorteil daraus hätte. Und es lenkt den Blick und die Energie der Geschäftseinheiten und Landesorganisationen, die das Geschäft eigentlich vorantreiben und ihren Kunden einen Mehrwert bringen sollen, auf rein interne Alibiübungen.

      Axiom 2 – Verwirrung: Je mehr ein Unternehmen auf starre «Predict and control»-Mechanismen setzt, desto weniger wird es verstehen, was schiefläuft. Und dies aus einem einfachen Grund: «Predict and control»-Übungen werden typischerweise dann in Überdosis verordnet, wenn die Ziele verfehlt werden. Wenn ein ganzer Bereich, ein Land oder ein Vertriebsmitarbeitender die Vorgaben verfehlt, ist das schlimm – der Betreffende ist nicht «predictable». Aber noch sehr viel schlimmer – und allenfalls «career-ending» – ist es, wenn der Betroffene nicht erklären kann, warum zum Beispiel die Großbestellung von Kunde X ausgeblieben ist. Nun können die Gründe dafür mannigfaltig sein: das Ordering-System beim Kunden ist ausgefallen, wegen eines personellen Wechsels an der Spitze wurden alle Bestellungen gestoppt oder schlicht und ergreifend hat jemand vergessen zu bestellen. Es können buchstäblich Hunderte von Gründen sein, die der entsprechende Vertriebsmitarbeitende unmöglich kennen kann. Nur muss er vorgeben, den Grund genau zu kennen. Denn das ehrliche «weiß ich nicht» wäre tödlich. Um zu überleben, wird er die Wirklichkeit so konstruieren, dass erstens der Eindruck entsteht, er kenne den Grund ganz genau, und zweitens, es treffe ihn beim besten Willen keine Schuld für die nicht eingetroffene Bestellung. Es wird ein Bild einer «objektiven», monokausalen Wirklichkeit an der Kundenfront konstruiert und gleichzeitig wird vorgegaukelt, dass der Mitarbeitende den Kunden «im Griff» hat, und dies nur mit einem Ziel: noch ein Quartal Gnadenfrist zu erhalten.

      Axiom 3 – Simplifizierung: Die Fiktion der «objektiven Wirklichkeit» und die Fiktion der «Beherrschbarkeit» und «alles im Griff zu haben» führen zu einer simplifizierten Sichtweise der Wirklichkeit – und wenig hilfreichen Handlungsanweisungen aus den Führungsetagen. Wenn ein Vertriebsmitarbeitender beispielsweise seine Margenziele verfehlt, wird ein Europa-Vorgesetzter, ohne dabei rot zu werden, den ganz einfachen Lösungsvorschlag machen: Verkauf ein bisschen mehr vom Produkt X, denn da sind die Margen besser. Natürlich hat der Vorgesetzte selbst einmal im Land und ganz nah an der «Kundenfront» gearbeitet – und er wusste damals ganz genau, dass die Sache nicht so einfach ist. Nur: Nun ist er auf Stufe Europa angesiedelt und übernimmt blitzschnell (manchmal innert Tagen) die ihm zur Pflicht gemachte Perspektive auf die Wirklichkeit: Wir haben es im Griff, und wenn doch etwas nicht gut ist, dann «executen» die da unten einfach nicht richtig. Das führt dann zu gegenseitiger Frustration: Der Vertriebsmitarbeitende fühlt sich veräppelt, der Europa-Boss nicht ernst genommen, wenn sein Ratschlag nicht unverzüglich umgesetzt wird.

      Axiom 4 – Vernebelung: Je schlechter es einem Unternehmen geht, desto weniger dürfen die wahren Gründe dafür genannt werden. Je schlechter es einem Unternehmen geht, desto mehr fühlen sich insbesondere die höheren Kader gefährdet. Denn ein Account-Manager oder ein Service-Mitarbeitender an der «Kundenfront» erbringt eine messbare Leistung (Umsatz, Kundenzufriedenheit) und wird oft durch seinen Kunden geschützt. Das mittlere und obere Management ist nur durch sich selbst geschützt – aber wenn es hart auf hart kommt, dann hackt eine Krähe auch einer anderen ein Auge aus. Dies führt zu drolligen, allerdings für das Unternehmen auch tragischen Vernebelungstaktiken in den sogenannten Country oder Business Reviews. In einem solchen Review evaluiert das höhere Management-Team eine Landes- oder Geschäftseinheit. Country Reviews sind straff strukturierte Übungen, oft mit Formatvorlagen für die Powerpoint-Slides und engem Zeitplan, der verhindert, dass spontane Gespräche entstehen. Bevor es allerdings zu dieser meist mit vielen Slides und unendlich vielen Datenfriedhöfen in Excel-Sheets angereicherten Reviews kommt, werden bis zu sieben Probeläufe angeordnet, die von verschiedenen Vorgesetzten im mittleren Management geführt werden. In diesen Probeläufen geht es vor allem um eines: den Prüflingen politische Korrektheit einzubläuen, und zwar aus folgendem Grund. Wenn es nämlich schlecht läuft, sind die Ursachen für das Versagen oft nicht bei externen Faktoren oder den Mitarbeitenden an der «Kundenfront» zu suchen, sondern bei ebendiesen mittleren oder oberen Unternehmenskadern. Doch das auszusprechen könnte in der – wegen der schlechten Resultate – aufgeheizten Stimmung zu empfindlichen Reaktionen vor allem im besonders exponierten höheren Management führen. Deshalb erhält das lokale Management meistens zwei Vorgaben: Erstens kritisch nur solche Punkte anzusprechen, die man im Land selbst lösen kann (kein «Fingerpointing», und schon gar nicht nach oben!). Und zweitens die schlechte Performance auf die mangelhafte lokale «Execution» zu schieben.

      Axiom 5: Cost-Cutting-Gone-Wrong: Zentralistisch geführte Unternehmen reagieren auf Probleme mit Kostensenkungsmaßnahmen – am völlig falschen Ort. Wenn die Geschäftszahlen schlecht ausfallen, haben Unternehmen mehrere Handlungsvarianten. Kosten zu sparen ist eine davon. Nur passiert das in hierarchisch geführten, prozessgesteuerten Großunternehmen häufig am falschen Ort: bei Mitarbeitenden, die in den Geschäftseinheiten und in Landesorganisation nahe bei den Kunden viel zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen. Im Prozessdenken geht diese einfache Erkenntnis häufig vergessen: Die Mitarbeitenden an der Kundenfront sind in der Wahrnehmung der Prozess-Steuerer relativ unwichtig. Sie «executen» bloß (und das ungenügend, sonst wären die Resultate nicht so schlecht!) und können leicht ersetzt werden. Außerdem ist der Abbau von hierarchisch weit entfernten Mitarbeitenden emotional weit weniger einschneidend als der Abbau im höheren oder mittleren Management.

      Es ist offensichtlich, dass ein solches Verhalten gemäss diesen Axiomen und die daraus resultierende Unternehmenskultur keine adäquate Anpassungsleistung an sich verändernde Marktsituationen zu leisten imstande ist. Ganz im Gegenteil: Es führt zu einer geistigen Erstarrung, blinder Prozesserfüllung und mannigfachen individuellen Überlebensstrategien, die nichts mit dem Unternehmenserfolg zu tun haben, diesen sogar behindern. Nicht selten geben Mitarbeitende in solchen Unternehmen ihrer Verwunderung Ausdruck, dass das Unternehmen auf der Basis solch offensichtlicher Fehlleistungen überhaupt existieren könne. Die Antwort darauf ist einfach: Das Schwungrad von Großunternehmen, teilweise seit Jahrzehnten angetrieben, dreht sich auch dann noch, wenn niemand mehr wirklich Schub verleiht – zumindest für eine gewisse Zeit.

      Lessons learned

      ■ Unternehmen mit einer zentralistischen Führung auf der Basis eines starren Prozessmanagements sind nicht in der Lage, sich auf eine immer dynamischere Markt- und Wettbewerbssituation einzustellen.

      ■ Das Prozessdenken führt zu einer Kultur der Prozesserfüllung und Systembefriedigung als Selbstzweck.

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