Gamebreaker. Jean-Paul Thommen
in der Lage, sich selbst zu kannibalisieren. Gleichzeitig vernachlässigen sie andere, weniger margenträchtige Kundensegmente. Dies ist die Chance für die disruptiven Herausforderer: Sie bieten einfachere Produkte zu einem geringeren Preis an, oft zugeschnitten auf die vernachlässigten Kundensegmente. Mit der Zeit interessieren sich immer mehr Kunden für diese Produkte – und die alten Unternehmen werden «disruptiert». Einige disruptive Firmen greifen niemanden an, sondern schaffen neue Märkte: IBM hat am 12. August 1981 den ersten Personal Computer, den IBM-PC 5150, vorgestellt. Das war nicht nur ein neues Produkt – IBM hat damit auch einen neuen Markt lanciert.
Aus der Praxis | Cloud lässt Eintrittsbarrieren fallen |
2003 schrieb ein kleines Unternehmen in Bristol (England) Geschichte. Als erstes Unternehmen stellte 422 South einen Animationsfilm mit Hilfe von Rechenkapazitäten aus der Cloud her. Das Rendering (die «Rasterung») von Animationsfilmen erfordert enorme Rechenkapazitäten und als Folge davon hohe Investitionen in den Aufbau eines eigenen Rechenzentrums. Ein eigenes Rechenzentrum aufzubauen ist nicht nur sehr kapitalintensiv und teuer im Unterhalt, sondern die Anlage ist über weite Strecken auch «arbeitslos», wenn nicht gerade ein Film gerendert wird. 422 South konnte zeigen, dass es auch anders geht und dass damit die Eintrittshürden für kreative Unternehmen der Filmbranche erheblich gesenkt werden können: 18 832 Frames für den Kurzfilm «The Painter» wurden dank Cloud-Power in damals rekordverdächtigen siebzehn Tagen gerendert. Im eigenen Rechenzentrum hätte die Fertigstellung drei Monate gedauert.
Die Bereitstellung von Rechenkapazität aus der Cloud nach Bedarf und die Bezahlung nach Verbrauch ist heute in der Filmindustrie und auch in anderen Branchen weit verbreitet und darf als ganz entscheidender Faktor für die fortschreitende Digitalisierung beziehungsweise Erhöhung der Veränderungsgeschwindigkeit gesehen werden.
Als unermüdlicher Fahnenträger dieser Idee und echter Gamebreaker machte sich Jeffrey Katzenberg, der CEO von Dreamworks, einen Namen: Er setzt völlig auf Cloud-Dienstleistungen bei der aufwendigen Produktion seiner animierten Filme.
Mit gestiegenen Ansprüchen an Animationsfilme ist der Cloud-Ansatz noch wichtiger: Im Film «Drachenzähmen leicht gemacht 2» von Dreamworks Animation wird jeder Grashalm, jede Rinde am Baum und jeder Gesichtsausdruck aufwendig gestaltet. Um die hohen Ansprüche des Publikums zu erfüllen, erfordert ein neunzigminütiger animierter Film vierundzwanzig Bilder pro Sekunde, also insgesamt 130 000 Einzelbilder. Das sind etwa 500 Millionen digitale Dateien und sagenhafte 250 Billionen Pixel pro Film. Dafür sind nicht nur enorme Rechen- und Speicherkapazitäten erforderlich, sondern auch eine hervorragende Vernetzung, denn die am Film beteiligten Künstler und Techniker arbeiten rund um den Globus.
Auch die rechtzeitige Auslieferung an die Kinos erfordert schnelle Datenverbindungen. Mittlerweile erscheint es als selbstverständlich und logisch, die enormen Rechenkapazitäten aus der Cloud zu beziehen und die an der Produktion Beteiligten zu vernetzen. Wenn man aber bedenkt, dass es fünf Jahre dauert, einen Animationsfilm herzustellen, und dass Antizipation (sind Drachen z. B. in fünf Jahren noch populär?), Geheimhaltung und Überraschungseffekt entscheidende Erfolgsfaktoren sind, ist der Mut zum Cloud-Ansatz bemerkenswert.
Ein Gamebreaker muss kein Duttweiler sein. In unserer Definition ist der Gamebreaker eine Person, die in einer der drei Innovationskategorien nach Christensen einen entscheidenden Beitrag leistet: Mit ihrem Geistesblitz kann sie die Effizienz erhöhen, einen Beitrag zur Steigerung der inkrementellen Innovation leisten oder aber den Anstoß zu einer disruptiven Innovation geben. Wer sich mental auf Gamebreaking einlässt, der wird allerdings einen erstaunlichen Effekt feststellen: Die Fähigkeit, die Dinge «anders» zu sehen, lässt sich trainieren – und diese Fähigkeit wird immer wichtiger und die Veränderung der Sichtweise immer radikaler.
Was ist damit gemeint? Lässt sich ein Manager oder Mitarbeitender erst einmal auf das Wagnis ein, das Bestehende in Frage zu stellen und eigene Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie man etwas besser, schneller, anders machen könnte, dann wird er sehr schnell einen Beitrag zur Effizienz-Innovation liefern können: Die meisten Mitarbeitenden – insbesondere in Großunternehmen – können viele Beispiele nennen, wie das Unternehmen effizienter werden könnte – und sei es nur, indem sie vorschlagen, an bestimmten Sitzungen nicht mehr teilzunehmen, weil das für ihre Tätigkeit gar nicht notwendig ist. So können Kosten für Überstunden vermieden werden. Auch inkremementelle Innovationen, die dem Kunden ein verbessertes Produkt und einen einfacheren Prozess bringen, kennt jeder Mitarbeitende. Bewirbt man sich beispielsweise für eine Kreditkarte, dann wird man ein Formular mit seinen Personalien ausfüllen müssen, inklusive Namen, Vornamen und Geburtsdatum. Kann man Namen und Vornamen noch nachvollziehen (um das Formular eindeutig zuordnen zu können), macht das Geburtsdatum kaum mehr Sinn: Denn die Antragssteller müssen gleichzeitig eine Kopie ihres Passes oder ihrer Identitätskarte mitliefern, auf der das Geburtsdatum notwendigerweise aufgeführt ist. Mit anderen Worten: Die inkrementelle Innovation erleichtert dem Kunden den Bewerbungsprozess, was nicht zu unterschätzen ist, weil kaum jemand einen besonderen Reiz darin sieht, Antragsformulare auszufüllen. Hat ein Gamebreaker aber erst einmal gelernt, die Dinge in Frage zu stellen und nach besseren Möglichkeiten für das Unternehmen und den Kunden zu suchen, dann wird es ihm sehr viel leichter fallen, völlig «out-of-the-box» zu denken. Er wird nach Lösungen suchen, bei denen der Kunde überhaupt kein Antragsformular mehr ausfüllen, sondern nur noch die Passkopie schicken muss. Der verblüffend einfache Prozess des Fintech-Unternehmens Revolut macht das vor und lässt die Formularstapel traditioneller Banken alt aussehen. Dies wie auch die kinderleichte Kontoverwaltung in Echtzeit auf einer App ist disruptives Gamebreaking und bringt alle Mitbewerber in Zugzwang.
Aus der Praxis | Cisco – Ohne Nebel ist die Wolke gar nichts |
Cloud-Computing war bis anhin das große Schlagwort in der digitalen Transformation – die Zukunft gehört aber ganz eindeutig dem Fog-Computing, also der Nebel-Rechnerei. Das hat mit dem Internet der Dinge (Internet of Things) zu tun, also mit der Tatsache, dass immer mehr «Dinge» – z.B. von der Smart Watch bis zum Turnschuh – Daten erfassen, gegenseitig austauschen und irgendwo speichern. Diese Datenflut übersteigt die Kapazitäten bestehender 4G-Netzwerke wie auch der Cloud-Rechenzentren bei weitem und führt zu Verzögerungen, die unter Umständen tödlich sein können.
Nehmen wir das nicht allzu ferne Beispiel der selbstfahrenden Autos. Gemäß dem Chip-Produzenten Intel werden diese einen wahren Tsunami an Daten generieren – rund 4000 Gigabyte pro Tag. Das ist etwa gleich viel, wie heute 3000 Bürger durchschnittlich in 24 Stunden erzeugen. Einige dieser Daten – etwa über den Benzinverbrauch – sind relativ zeitunkritisch und können bedenkenlos in irgendein Cloud-Center am andern Ende der Welt gesendet werden. Andere Daten, etwa aus dem Videostream und den Sensoren, sind dagegen höchst zeitkritisch: Denn diese Daten stellen sicher, dass wir nicht mit anderen sich schnell bewegenden Autos zusammenstoßen. Diese zeitkritischen Daten müssen deshalb vor Ort und in «Echtzeit» verarbeitet werden – später können sie bei Bedarf für eine bestimmte Zeit in einer Cloud gespeichert werden – z.B. um bei Unfällen zu rekonstruieren, was genau geschehen ist. Diese dezentrale Datenverarbeitung benötigt natürlich auch eine entsprechende Infrastruktur, die uns, genau wie der Nebel, auf der Erde einhüllt: Sogenannte Fog-Nodes (Nebelknoten) werden in selbstfahrenden Autos selbst zu finden sein, aber auch am Straßenrand, in Lichtsignalen und andern Orten. Je schneller und je mehr sich das Konzept der selbstfahrenden Autos durchsetzt, desto schneller wird die dezentrale Netz- und Verarbeitungsinfrastruktur wachsen müssen. Wer wird diese nächste Stufe der digitalen Transformation als Gamebreaker dominieren? Eine Vorhersage ist schwierig, indes scheint der traditionelle Netzwerkgigant Cisco zur Zeit gute Karten zu haben.
Ein Gamebreaker wird sich in der Innovationshierarchie von unten nach oben durcharbeiten. Denn die Fähigkeit, die Dinge anders zu sehen, wird dem echten Gamebreakern über die Zeit zur zweiten Natur. Wesentlich ist dabei noch etwas anderes: Ein Gamebreaker verabscheut komplizierte Business-Pläne mit ausgeklügelten «Predict and control»-Mechanismen, wie das im Kapitel 1 beschrieben ist. Ein Gamebreaker ist ein König der kleinen Schritte: Er überlegt sich, wie etwas besser gemacht werden könnte, und legt unmittelbar mit der Umsetzung los. Denn ein echter Gamebreaker zieht seine Kraft