Cashbook. Wolfgang Deutschmann
Besitzer von Boutique A hat einige Male darüber nachgedacht, sich einen Webshop anzuschaffen und sich mit den sozialen Medien zu befassen. Schließlich reden alle darüber, dass Daten das neue Gold sind. Eine Boutique ganz in seiner Nähe, Boutique B, hat beides getan und postet aus seiner Sicht wie wild eintreffende Schachteln mit den jeweiligen Modemarken darauf oder Details neuer Produkte. Doch er hält das für einen peinlichen Versuch, Amazon oder Zalando Konkurrenz zu machen. In Wirklichkeit, vermutet er, hängen im Webshop von Boutique B die digitalen Staubfäden von den Regalen.
Auch einige Branchenverbände empfehlen Unternehmern wie ihm inzwischen Webshops und Social-Media-Auftritte, das hat er mitgekriegt, aber seiner Meinung nach liegt das vor allem daran, dass die nicht wissen, was sie sonst in ihre Newsletter schreiben sollen. Dass das alles sehr viel Geld kosten würde, davon reden all die selbsternannten Wirtschaftspropheten jedenfalls nie. Wie er Follower findet und wie er Kunden in den Webshop lotst, das stand auch noch in keinem Newsletter. Geld ausgeben für etwas ist immer leicht, denkt er. Aber beim Geldeinnehmen wird’s halt schwierig.
Sein Publikum bewegt sich auch gar nicht in den sozialen Medien, denkt er, das ist nach den Kosten für die Digitalisierung seines Unternehmens der zweite von drei entscheidenden Punkten für ihn, die gegen diese Investition sprechen. Was hätte er denn von einem Social-Media-Auftritt, für den sich keiner interessiert? Und was von einem Online-Shop, in dem niemand einkauft?
Würde er einen Webshop aufmachen, wäre das aus seiner Sicht ungefähr so, als würde er Zeit und Geld dafür verschwenden, draußen in der Wahrner Heide, wo höchstens ein paar Hasen, Füchse, Marder, Wildschweine und Radfahrer vorbeikommen, die neuen Jeans-Kollektionen von Armani, Closed oder 7 For All Mankind anzubieten. Würde er dazu einen Social-Media-Auftritt starten, wäre das, als würde er da draußen jeden Tag einsam unter freiem Himmel drei Stunden lang die Qualität seiner Produkte loben. Er würde nur die Tiere erschrecken und die Radfahrer nerven.
Seinen dritten Punkt, findet er, bedenkt zu Unrecht niemand: Hätte er tatsächlich einen professionellen Webshop und würde er mit einem Social-Media-Auftritt Kunden dorthin locken, wären es wahrscheinlich die gleichen, die sonst in seine Boutique kommen. Würden die erst einmal anfangen, online statt persönlich bei ihm einzukaufen, wären sie irgendwann weg. Denn er würde den Kontakt zu ihnen verlieren, könnte seine große Stärke, die persönliche Betreuung, nicht mehr ausspielen und wäre der Konkurrenz endgültig wehrlos ausgeliefert.
Das Fazit des Besitzers von Boutique A zum Thema Geld verdienen mit Facebook, Instagram, YouTube und Co.:
»Ich habe bisher gut ohne Webshop und soziale Medien gelebt und werde es auch in Zukunft tun.
Persönlicher Service wird auch in Zukunft durch nichts zu ersetzen sein.«
WIE UND WO KUNDEN EINKAUFEN
Nun blickt ein Mitarbeiter eines Logistikunternehmens in der Kölner Innenstadt am Freitag zu Mittag durch sein Fenster im achten Stock in den grauen Himmel und fragt sich, wo der Sommer geblieben ist. Ihm fällt ein, dass die Winterjacken, die er im vergangenen Jahr getragen hat, schon damals unansehnlich waren und dass er sich schon lange wieder einmal etwas Gutes tun wollte.
Sonst kauft er gerne bei Auslandsreisen ein, Souvenirs zum Anziehen sozusagen, oder in den Luminaden, einem Einkaufszentrum in Leverkusen, wo er wohnt. Aber weil er gerade nichts zu tun hat, sieht er auf seinem Smartphone nach, wo er in der Gegend um sein Büro eine schöne, warme Winterjacke bekommen könnte.
Boutique A taucht nicht auf. Ganz oben in der Liste von Google steht Boutique B. Die Adresse der Boutique kennt er. Sie liegt in unmittelbarer Nähe eines Asiaten, bei dem er mit Kollegen manchmal zu Mittag isst. Bloß ist ihm der Laden noch nie aufgefallen.
Er kann sich dann doch nicht aufraffen, hinaus in den grauen Tag zu gehen. Lieber lehnt er sich zurück und checkt seinen Instagram-Account.
Ein Kollege aus dem Rechtsschutz postet Fotos von sich, auf denen er wie Capital Bra aussieht. Na ja. Eine Freundin seiner Frau, die vergangenes Jahr in Rente ging, postet ein Foto, auf dem sie ihren Mann auf den Mund küsst. Irgendwie romantisch, aber auch ein bisschen unheimlich. Und da ist eine Anzeige von dieser Boutique.
Er sieht sich in ihrem Webshop Winterjacken an. Dann sieht er auf die Uhr. Er hat noch einen späten Termin und bis dahin würde er hier nur herumsitzen und die Zeit totschlagen. Und so eine Jacke probiert man besser an.
SOCIAL-MEDIA-LEUGNER GIBT ES ÜBERALL
Der Betreiber der Boutique A ist mit seiner fatalen Denkart kein Einzelfall. Sie begegnet mir ständig und auf allen Ebenen der Wirtschaft. Selbst bei Milliardenkonzernen, bei denen ich früher gedacht hatte, dass sie immer einen Finger am Puls der Zeit haben, weil sie wissen, dass sie nur so bleiben können, was sie sind: groß und mächtig.
Erst jüngst kam ich in Kontakt mit einem österreichischen Versicherungskonzern, einem der großen der Branche mit Sitz in einem imposanten Wiener Hochhaus. Der Social-Media-Auftritt des Konzerns war ungefähr auf dem Niveau einer mittelmäßig engagierten Privatperson. Die Zahl der Abonnenten des Facebook-Accounts lag etwa beim Doppelten der Mitarbeiterzahl und die Beiträge bekamen 15 bis 50 Likes.
»Versicherungen sind ein sehr persönliches Geschäft«, sagte einer der Vorstände, ein umgänglicher Manager der alten Schule, als wir ihn freundlich auf diese für uns offensichtliche digitale Baustelle des Konzerns ansprachen. »Soziale Medien sind auch nicht der Ort, an dem Menschen über so etwas Bedeutendes wie eine Versicherung entscheiden.«
Man kommuniziere deshalb fast ausschließlich über Werbung in klassischen Medien und über Plakatkampagnen, beides sei besser kalkulierbar. »Selbst wenn wir wollten, kämen wir in den sozialen Medien nicht weit«, sagte der Vorstand. »Versicherungen sind dafür einfach zu langweilig. Soziale Medien sind bestimmt für viele Branchen wichtig, vielleicht irgendwann sogar entscheidend, aber nicht für unsere.«
Sein Fazit.
»Soziale Medien bringen uns keinen Mehrwert.«
DER HOCHMUT DER UNWISSENDEN
Es verblüfft mich immer wieder, wie auch erfahrene und bisher erfolgreiche Unternehmer und Manager mit ihren Einschätzungen offensichtlicher Entwicklungen dermaßen falsch liegen können. Hier die acht Hauptargumente der Social-Media-Leugner noch einmal im Überblick, gereiht nach ihrer Häufigkeit:
Argument eins. »Soziale Medien sind für viele Branchen wichtig, aber nicht für unsere.«
Das ist ein Denkfehler, den ich besonders häufig und in allen Branchen antreffe. Die Vertreter dieser Philosophie denken, sie würden für die einzige Branche der Welt arbeiten, für die Social-Media-Aktivitäten keinen Sinn haben.
Es ist eine Art Hochmut der Unwissenden, den sie bald bitter bereuen werden. Denn es gibt keine einzige Branche, die in Zukunft ohne soziale Medien auskommen wird, egal, ob es sich um B2C- oder um B2B-Geschäfte handelt, also um Geschäfte mit Endverbrauchern oder um solche zwischen Unternehmen.
Meine Steuerberaterin gehört auch zu den Social-Media-Leugnern. Sie ist überzeugt, dass sie keinen Social-Media-Auftritt braucht. Sie hat genug Klienten und wenn einer ausfällt, stehen immer genug andere bereit.
Sie hat ein anderes Problem. Es besteht darin, gute junge Leute zu finden, um mit ihnen als Kanzlei zu wachsen. Die jungen Leute wollen nicht mehr arbeiten, denkt sie, dabei ist der Grund ein anderer. Welcher junge Mensch will schon bei einem Unternehmen arbeiten, das in seiner Welt, also in jener der sozialen Medien, gar nicht existiert? Und wie soll ein junger Mensch ein solches Unternehmen überhaupt erst finden?
Argument zwei. »Unsere Branche ist zu langweilig für die sozialen Medien.«
Es gibt keine langweilige Branche, sondern nur Unternehmen ohne Ideen. Meine Social-Media-Agentur betreut zum Beispiel die Accounts eines Herstellers von Pappbechern. Die sind auf den ersten Blick wirklich nicht besonders aufregend, doch bei näherem Hinsehen wird alles spannend. Wie und woraus werden Pappbecher hergestellt?