Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch. Barbara E Stalder
colspan="2">Gründe für Lehrvertragsauflösungen
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Porträts
Daniel, 17-jährig
«Ich will jetzt einfach glücklich sein»
Simon, 19-jährig
«Ich bin immer tiefer gesunken, physisch wie psychisch»
Kevin, 19-jährig
«Ich habe mich zurückgezogen, wurde stiller, aggressiver, war mit mir selbst im Clinch»
Sergio, 21-jährig
«Es ist schon so, ich bin ein Versager»
Remo, 17-jährig
«Ich wollte doch nicht Koch werden, um immer nur Sandwiches zuzubereiten»
Sandra, 20-jährig
«Sie hat mich wie eine kopflose Niete behandelt. Ich kam mir vor wie ihre Sklavin»
Hanna, 31-jährig
«Ich war damals irgendwie selber total von der Rolle»
Antonia, 28-jährig
«Es war jedes Mal wieder eine so große Belastung und Enttäuschung, dass ich fast kaputtging»
Matthias, 27-jährig
«Ahnungslosigkeit oder Alternativlosigkeit»
In der Schweiz und in Deutschland werden zwischen 20 und 25 % aller Lehrverträge vorzeitig aufgelöst (Stalder & Schmid, 2006a, 2006b; Uhly, 2015). In einigen Lehrberufen wird jedes dritte oder sogar jedes zweite Lehrverhältnis vorzeitig beendet. Berücksichtigt man zudem, dass manche Lernende eine Klasse wiederholen oder die Abschlussprüfung nicht bestehen, ist der Anteil der Lernenden mit nichtlinearem Ausbildungsverlauf beträchtlich: In der Schweiz durchlaufen nur rund 70 % der Lernenden ihre berufliche Grundbildung gradlinig bis zum erfolgreichen Abschluss, d. h. ohne Unterbrechung, Klassenrepetition, Wechsel oder Misserfolg bei der Lehrabschlussprüfung (Stalder, 2012a).
Die vorzeitige Auflösung des Lehrvertrags ist für die betroffenen Lernenden häufig ein belastendes Ereignis (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schmid, 2010; Schmidt & Tippelt, 2011). Sie gehört nicht zu jeder Ausbildungsbiografie, ist weder von Lernenden noch von Berufsbildenden eingeplant und institutionell auch nicht vorgesehen (Neuenschwander, Gerber, Frank & Rottermann, 2012; Stamm, 2012). Für Betriebe ist die vorzeitige Vertragsauflösung mit personellen und finanziellen Einbußen verbunden, da getätigte Ausbildungsleistungen verloren gehen und neue Lernende gesucht und eingearbeitet werden müssen (Wenzelmann & Lemmermann, 2012). Lernende sind mit einem «Bruch» in ihrer Bildungslaufbahn konfrontiert und herausgefordert, sich neu zu orientieren (Hecker, 2000; Schöngen, 2003b). Die Hürden, die bei einem Wechsel von Lehrberuf und Lehrbetrieb zu überwinden sind, sind hoch und vor Lehreintritt getroffene berufliche Vorentscheidungen nicht einfach revidierbar (Lamamra & Masdonati, 2008a; Schöngen, 2003b). Lernende, die das Berufsfeld wechseln möchten, müssen bis zum darauf folgenden Schuljahresbeginn warten und wieder im ersten Lehrjahr beginnen. Zudem zögern viele Betriebe, Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung eine Lehrstelle anzubieten (Höötmann, 2001; Stalder, 2000).
Vorzeitige Vertragsauflösungen sind auch in der Bildungspolitik seit Langem ein Thema. Sie werfen ein kritisches Licht auf die Funktionsfähigkeit und die Effizienz des Berufsbildungssystems und verweisen auf Probleme an der Schnittstelle zwischen der Volksschule und der beruflichen Grundbildung (Deuer, 2006; Galliker, 2011; SKBF, 2010). In diesem Kontext stellen sich Fragen zur Berufsorientierung und zur Anpassung der Lernenden an die schulischen und betrieblichen Anforderungen der beruflichen Grundbildung – aber auch zur Qualität der Volksschule und der Ausbildung in den Lehrbetrieben und Berufsfachschulen (Deuer, 2015; Stalder & Carigiet Reinhard, 2014; Uhly, 2015). In Anbetracht der Bedeutung vorzeitiger Lehrvertragsauflösungen und nichtlinearer Ausbildungsverläufe haben sich Bund und Kantone zum Ziel gesetzt, Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Übertritt in die Sekundarstufe II frühzeitig zu erfassen und Maßnahmen zu verstärken, um Ausbildungswechsel, Abbrüche und Wartejahre zu vermeiden (EDK, 2006; EDK et al., 2015; Schweizerische Eidgenossenschaft & EDK, 2011). Die politische Diskussion von Lehrvertragsauflösungen wird unter zwei Gesichtspunkten geführt: Erstens wird nach Gründen und Erklärungen für Lehrvertragsauflösungen gesucht und es werden Präventionsmaßnahmen gefordert, um die Auflösungsquote zur verringern (EDK et al., 2015). Zweitens richtet sich das Augenmerk auf die Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen und den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Jugendlichen. Es wird befürchtet, dass ein Teil der Jugendlichen nach einer Lehrvertragsauflösung keine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II findet, ohne Berufsabschluss bleibt und damit Gefahr läuft, sich langfristig nicht erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (Bertschy, Böni & Meyer, 2007; Häfeli & Schellenberg, 2009; Schmid, 2013). Jugendliche sollen entsprechend besser unterstützt und befähigt werden, ihre (berufliche) Ausbildung nach einer Vertragsauflösung fortzusetzen und erfolgreich abzuschließen (Schmid, 2010).
Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg ist, so die Grundthese des vorliegenden Buches, kein Widerspruch. Lehrvertragsauflösungen sind nicht immer negativ zu bewerten. Sie bedeuten nicht immer, dass die Lernenden – oder die Betriebe – gescheitert sind (Hecker, 2000; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Uhly, 2013). Eine Vertragsauflösung bietet den betroffenen