Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch. Barbara E Stalder

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch - Barbara E Stalder


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neu zu gestalten (Bohlinger, 2002b; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015). Gelingt es den Jugendlichen, eine Anschlusslösung zu finden und einen Berufsabschluss zu erlangen, kann eine Lehrvertragsauflösung zumindest langfristig als positiv beurteilt werden (Boockmann, Dengler, Nielen, Seidel & Verbeek, 2014).

      Das Thema «Lehrvertragsauflösung» findet in der Schweiz auch deshalb große Aufmerksamkeit, weil die (duale) Berufsbildung hierzulande stark verwurzelt ist und trotz zeitweiliger Kritik sowohl im Inland wie auch im Ausland als Erfolgsmodell gelobt wird (OECD, 2008; Schellenbauer, Walser, Lepori, Hotz-Hart & Gonon, 2011). Rund zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz durchlaufen eine berufliche Grundbildung (SBFI, 2015). Der Einstieg erfolgt mehrheitlich direkt nach der Volksschule oder einem Brückenangebot. Nur wenige Jugendliche treten nach Abschluss einer allgemeinbildenden Ausbildung (gymnasiale Maturitätsschule, Fachmittelschule) in eine berufliche Grundbildung ein (vgl. SKBF, 2014). Im Jahr 2012 traten 46 % der Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schule direkt in eine berufliche Grundbildung ein. 17 % der Schulaustretenden besuchten ein Brückenangebot, das auf den Eintritt in eine berufliche Grundbildung vorbereitet, d. h. ein Berufsvorbereitendes Schuljahr/oder eine Vorlehre (SBFI, 2015). 14 % nahmen an einer anderen Zwischenlösung teil (z. B. Praktikum, Sprachaufenthalt, Motivationssemester) oder waren nicht in Ausbildung. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nach der Volksschule eine allgemeinbildende Ausbildung besuchten, ist mit 27 % im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gering.

      Berufliche Grundbildungen dauern zwei bis vier Jahre und werden in rund 240 Lehrberufen mit unterschiedlichen intellektuellen Anforderungen angeboten (Stalder, 2011b). Drei- und vierjährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch stärkere Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ). Ergänzend kann ein Berufsmaturitätsabschluss erworben werden, der einen prüfungsfreien Zugang zu Fachhochschulen gewährt. Zweijährige berufliche Grundbildungen richten sich an schulisch schwächere, vorwiegend praktisch begabte Jugendliche und führen zu einem eidgenössischen Berufsattest (EBA). Die zweijährige berufliche Grundbildung löst die Anlehre ab, die wenig standardisiert war und bei Jugendlichen wie Eltern nur wenig Akzeptanz fand (Kammermann, Stalder & Hättich, 2011).

      Berufliche Grundbildungen sind mehrheitlich dual organisiert, wobei die Ausbildung im Kleinbetrieb mit weniger als 50 Beschäftigten die häufigste Form ist (SBFI, 2015; Wettstein, Schmid & Gonon, 2014). Die Ausbildung ist auf drei Lernorte verteilt: den Betrieb, die Berufsfachschule und die Ausbildungszentren, in denen die überbetrieblichen Kurse stattfinden. Gemessen an der Ausbildungszeit liegt der Ausbildungsschwerpunkt im Lehrbetrieb. Lernende verbringen in der Regel drei bis vier Tage in der Woche im Betrieb und besuchen ein bis zwei Tage in der Woche die Berufsfachschule. Die überbetrieblichen Kurse werden von den Organisationen der Arbeitswelt durchgeführt und dauern zwei Wochen bis drei Monate verteilt auf die gesamte Lehrdauer. Wie andere duale Systeme ist das Schweizer Berufsbildungssystem eng mit dem Beschäftigungssystem verknüpft (Gonon, 2002; Stalder & Nägele, 2011; Stolz & Gonon, 2008). Die Bildungspläne und Qualifikationsverfahren1 sind berufsspezifisch ausformuliert und der Weg von der Berufsausbildung ins Erwerbsleben ist stark vorstrukturiert (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Die Organisationen der Arbeitswelt (Berufsverbände, Sozialpartner, Unternehmen) sind neben Bund und Kantonen zentrale Akteure in der Berufsbildung. Sie bestimmen über die Ausbildungsinhalte, die zu erreichenden Kompetenzen bis zum Abschluss der beruflichen Grundbildung sowie die Qualifikationsverfahren (Wettstein et al., 2014; Zbinden-Bühler, 2010). Betriebe, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Ausbildung von Lernenden erfüllen, entscheiden frei, ob sie sich an der Ausbildung beteiligen. Die Berufsbildenden wählen zudem aufgrund eigener Selektionskriterien, wen sie ausbilden möchten und wen nicht (Imdorf, 2014; Stalder, 2000).

      Rechte und Pflichten von Lehrbetrieb und Lernenden werden in einem Lehrvertrag festgehalten, der vor Lehrantritt von den Berufsbildenden und den Lernenden bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung unterschrieben wird. Der Lehrvertrag ist eine besondere Art von Arbeitsvertrag, bei dem die Ausbildung der lernenden Person im Zentrum steht. Er richtet sich nach den Bestimmungen des schweizerischen Obligationenrechts über den Lehrvertrag (OR, 1911, Art. 344–346a). Gemäß Artikel 344a regelt der Lehrvertrag die Art und die Dauer der beruflichen Grundbildung, die Probezeit, die Arbeitszeit, die Ferien und den Lohn der Lernenden. Durch den Lehrvertrag verpflichten sich die Arbeitgebenden, die Lernenden für eine bestimmte Berufstätigkeit fachgemäß zu bilden und sie bei der Ausbildung zu unterstützen. Die Lernenden erklären sich damit einverstanden, im Rahmen dieser Ausbildung Arbeit im Dienst des Arbeitgebers zu leisten. Damit richtet sich das Augenmerk auf die besondere Rolle von Lernenden und Berufsbildenden. Lernende sind nicht nur Auszubildende, sondern Mitarbeitende mit besonderem Status (Lamamra & Masdonati, 2008a; Lohaus & Habermann, 2015). Sie sind in reale Arbeitsprozesse eingebunden (Wettstein et al., 2014) und müssen sich in eine Gruppe erwachsener Kolleginnen und Kollegen integrieren (Nägele & Neuenschwander, 2014). Sie leisten produktive Arbeit und erzielen in vielen Branchen Erträge, die die Ausbildungskosten übertreffen (Strupler & Wolter, 2012). Insbesondere in Kleinbetrieben übernehmen Lernende häufig Aufgaben, die sonst von an- oder ausgelernten Angestellten ausgeführt werden müssten (Stalder, 1999). Berufsbildende sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit besonderem Status, die primär den betrieblichen Erfolg sicherstellen müssen. Zusätzlich sollen sie für eine ausreichende Qualität der beruflichen Grundbildung am betrieblichen Lernort sorgen und sind dafür verantwortlich, dass Lernen bei der Arbeit möglich ist (Nägele, 2013). Gemäß Berufsbildungsverordnung verfügen Berufsbildende über ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis und zwei Jahre Berufspraxis im Lehrgebiet sowie über eine berufspädagogische Qualifikation im Umfang von 100 Lernstunden oder 40 Kursstunden (BBV, Art. 44).

      Der Lehrvertrag ist zeitlich befristet und erstreckt sich über die gesamte Dauer der beruflichen Grundbildung. Das Lehrverhältnis endet nach Ablauf der festgelegten Ausbildungszeit. Als Vertrag mit fester Laufzeit kann ein Lehrvertrag während der Probezeit mit einer Frist von sieben Tagen aufgelöst werden. Danach ist er grundsätzlich nicht kündbar, es sei denn, es liegen wichtige Gründe vor (OR, 1911, Art. 346). Eine Kündigung ist dann zulässig, wenn den Berufsbildenden die zur Bildung der lernenden Person nötigen beruflichen Fähigkeiten oder persönlichen Eigenschaften fehlen. Sie kann aber auch dann vorgenommen werden, wenn die Lernenden nicht über die für die berufliche Grundbildung nötigen körperlichen und geistigen Voraussetzungen verfügen oder wenn sie gesundheitlich oder sittlich gefährdet sind. Eine Vertragsauflösung ist zudem zulässig, wenn die berufliche Grundbildung nicht oder nur durch wesentliche Veränderungen beendet werden kann. Die Entscheidung für die Auflösung des Lehrverhältnisses kann vom Lehrbetrieb und den Lernenden in beidseitigem Einverständnis oder einseitig getroffen werden.

      Lehrverträge – neue Abschlüsse und auch vorzeitige Auflösungen – werden in den Statistiken der kantonalen Ämter für Berufsbildung registriert. Im Falle einer Entscheidung vonseiten der Lehrvertragsparteien muss der Lehrbetrieb das zuständige kantonale Amt für Berufsbildung informieren (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 4). Dieses bestätigt die Auflösung beiden Parteien schriftlich. Die kantonale Aufsichtsbehörde kann dem Berufsbildungsgesetz unterstehende Lehrverhältnisse aber auch von sich aus auflösen (BBG, 2002, Art. 24, Abs. 5 Bst. b), wenn gesetzliche Vorschriften nicht eingehalten werden oder der Erfolg der beruflichen Grundbildung infrage gestellt ist. Dies kommt allerdings nur in Ausnahmefällen vor. In Bezug auf das weitere Vorgehen nach einer Lehrvertragsauflösung gibt es kaum gesetzliche Vorgaben. Einzig für den Fall einer Betriebsschließung schreibt das Berufsbildungsgesetz den Behörden vor, dafür zu sorgen, dass die Lernenden die berufliche Grundbildung ordnungsgemäß beenden können (BBG, 2002, Art. 14, Abs. 5).

      Im öffentlichen Diskurs werden die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Ausbildungsabbruch» bzw. «Lehrabbruch» häufig synonym verwendet. Oft wird auch dann von Lehrabbruch gesprochen, wenn es eigentlich um eine Lehrvertragsauflösung geht, was wohl auf die Medienpopularität


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