Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch. Barbara E Stalder

Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch - Barbara E Stalder


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Ein Schritt ins Leere» (Beobachter, 17. Januar 2007)3 wird unmissverständlich deutlich gemacht, wer die Auflösung verschuldet hat und welche gravierenden Konsequenzen mit diesem ‹Fehltritt› verbunden sind. Tatsächlich geben solche Medienberichte das Phänomen von Lehrvertragsauflösungen nur unzutreffend wieder. Die Begriffe «Lehrvertragsauflösung» und «Lehrabbruch» bedeuten nicht dasselbe. Die synonyme Begriffsverwendung ist unangebracht und führt vor allem im Zusammenhang mit der quantitativen Bewertung des Phänomens zu Missverständnissen und Unklarheiten (vgl. dazu auch Bohlinger, 2002b; Uhly, 2015).

      Aus juristischer Sicht bezeichnet der Begriff «Lehrvertragsauflösung» die vorzeitige Auflösung, das heißt Kündigung des Lehrvertrags seitens einer der beiden Vertragsparteien oder im gegenseitigen Einvernehmen (OR, 1911, Art. 346). Von «Lehrvertragsauflösung» wird dann gesprochen, wenn ein Lehrverhältnis vor Ablauf der im Lehrvertrag festgehaltenen Ausbildungszeit beendet wird – unabhängig davon, aus welchen Gründen dies geschehen ist und wer die Entscheidung getroffen hat. Der Begriff «Lehrvertragsauflösung» lässt auch keinerlei Rückschlüsse auf den weiteren Ausbildungsverlauf der Jugendlichen zu. Ein Lehrvertrag wird auch dann aufgelöst, wenn unmittelbar danach ein neuer Lehrvertrag ausgestellt wird und Lernende die Ausbildung fortsetzen.

      Auch in wissenschaftlichen Arbeiten werden «Lehrvertragsauflösung» und «Abbruch» zuweilen synonym verwendet (Baumeler, Ertelt & Frey, 2012; Faßmann, 1998; Fess, 1995). Faßmann (1998) präzisiert zwar, dass vor allem «Abbrüche nach unten» (ersatzloser Ausstieg aus der beruflichen Qualifizierung) problematisch sind, während «Abbrüche nach oben» (weiterführende Ausbildung außerhalb des dualen Systems) und «horizontale Abbrüche» (berufliche Umorientierung im dualen System oder Rückkehr in ein Brückenangebot) in vielen Fällen zu begrüßen seien. Trotzdem ist die Begriffsverwendung unangemessen, da jegliche Vertragsauflösung als «Abbruch» bezeichnet wird. In der Regel wird der Begriff «Abbruch» enger gefasst. Damit soll ausgedrückt werden, dass Vertragsauflösungen nicht immer dazu führen, dass Jugendliche die berufliche Grundbildung gänzlich abbrechen und ohne Abschluss auf der Sekundarstufe II bleiben (Mischler, 2014; Uhly, 2015). Neuenschwander (1999) sowie Süss, Neuenschwander und Dumont (1996) definieren «Lehrabbruch» als denjenigen Typ von Lehrvertragsauflösung, nach dem Lernende gar keine neue Ausbildung beginnen oder eine nicht-zertifizierende Ausbildung aufnehmen. Noch enger ist die Definition von Ernst und Spevacek (2012), die nur Lehrvertragsauflösungen, die zu Arbeitslosigkeit führen, als «echte Abbrüche» bezeichnen. Uhly (2015) fasst den Begriff «Abbruch» hingegen breiter und beschreibt damit diejenigen Lernenden, die eine Ausbildung im dualen System beginnen, aber keinen Berufsbildungsabschluss erwerben. Dies ist auch möglich, wenn keine vorzeitige Vertragsauflösung vorliegt, zum Beispiel wenn Lernende die Lehrabschlussprüfung nicht bestehen oder nicht zur Prüfung antreten. Auf europäischer Ebene wird der Begriff des Ausbildungsabbruchs nur noch zurückhaltend verwendet. Stattdessen wird von frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgängerinnen und -abgängern gesprochen. Damit werden Jugendliche im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bezeichnet, die höchstens einen Abschluss der Sekundarstufe I erreicht haben und nicht in Aus- oder Weiterbildung sind (vgl. z. B. Glossar Eurostat, 2015)4. Dazu gehören auch Jugendliche, die nie eine berufliche Grundbildung begonnen haben.

      In verschiedenen Studien werden Abbrüche von Wechseln unterschieden. Nach Bernath, Wirthensohn und Löhrer (1989) findet ein Wechsel dann statt, wenn Jugendliche eine neue Ausbildung ergreifen, unabhängig davon, ob diese nahtlos an die vorzeitig beendete anschließt oder nicht. Um einen Ausbildungswechsel handelt es sich auch dann, wenn das ursprüngliche Ausbildungsziel an einem neuen Ort weiterverfolgt wird (Betriebswechsel). Süss et al. (1996) fassen unter dem Begriff «Wechsel» nur Vertragsauflösungen mit nahtloser Fortsetzung in einer «gleichwertigen» Ausbildung. Mischler (2014) berücksichtigt nicht nur realisierte, sondern auch geplante Wechsel. Er unterscheidet zwischen Vertragsauflösungen mit und ohne Perspektive, wobei bei Vertragsauflösungen mit Perspektive ein Wechsel (Folgevertrag, weiterer Schulbesuch) bereits erfolgt oder zumindest geplant ist. Eine engere Definition von Wechsel findet sich hingegen bei Uhly (2013), die von Vertragswechseln spricht, wenn der Folgevertrag mit oder ohne Berufswechsel ohne längere Unterbrechung abgeschlossen wird.

      Insgesamt zeigt sich, dass die Begriffe «Abbruch» und «Wechsel» sehr unterschiedlich verwendet werden. Eine Differenzierung nach Verbleib der Jugendlichen nach der Vertragsauflösung, d. h. der Art der Anschlusslösung, scheint zwar sinnvoll und nötig. Die aufgeführten Typologien sind aber kritisch zu betrachten, da realisierte Anschlusslösungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben, unterschiedlich gruppiert und teilweise mit subjektiven Einschätzungen wie einem Ausbildungsverzicht vermischt werden. Dies erschwert die Vergleichbarkeit von Untersuchungsergebnissen und deren Schlussfolgerungen für die Praxis. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Verwendung des Begriffs «Abbruch» zwiespältig. Er ist nicht nur unpräzis, sondern irreführend. Er suggeriert, dass die Jugendlichen «endgültig» aus dem Bildungssystem aussteigen und ohne Berufsabschluss bleiben. Diese Schlussfolgerung wäre allenfalls zulässig, wenn der Ausbildungsverlauf der Jugendlichen über mehrere Jahre beobachtet wird. Das trifft für die meisten Studien nicht zu. Ebenso problematisch ist die Verwendung des Begriffs «echter Abbruch», da er sich auf Arbeitslosigkeit beschränkt und Übergänge in Brückenangebote oder unqualifizierte Erwerbstätigkeiten nicht berücksichtigt. Die Konsequenzen einer Lehrvertragsauflösung für den Ausbildungs- und Erwerbsverlauf der betroffenen Lernenden werden damit beschönigt oder zumindest nur unzureichend abgebildet. Jugendliche ohne Sekundarstufe-II-Abschluss finden sich häufiger als andere in prekären Erwerbslagen, sind häufiger und länger arbeitslos und in befristeten Anstellungen tätig. Mit Blick auf den Verbleib nach der Vertragsauflösung ist entscheidend zu wissen, ob Jugendliche wieder in eine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II einsteigen und diese erfolgreich abschließen.

      Diese Kritik aufnehmend wird im vorliegenden Buch zwischen «zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» und «keine zertifizierende Ausbildung auf der Sekundarstufe II» unterschieden (Stalder & Schmid, 2006a). Dabei wird ausschließlich die effektive Ausbildungssituation der Jugendlichen berücksichtigt, wobei sich diese je nach Beobachtungszeitpunkt stark verändern kann. Es werden keine Rückschlüsse auf den zukünftigen Ausbildungsverlauf (Ausbildungsverzicht, endgültiger Abbruch o.Ä.) gezogen. Dementsprechend wird auf die Verwendung des Begriffs Abbruch verzichtet. Für eine differenzierte Betrachtung des Verbleibs nach der Vertragsauflösung werden bei den zertifizierenden Ausbildungen vier Anschlusslösungen unterschieden: die Fortsetzung der Ausbildung in demselben Beruf, aber in einem anderen Betrieb (Betriebswechsel), der Wechsel in eine berufliche Grundbildung im bisherigen Berufsfeld mit einem höheren (Aufstieg) oder tieferen (Abstieg) Anforderungsniveau sowie die Aufnahme einer Ausbildung in einem anderen Berufsfeld oder einer schulischen Ausbildung (Ausbildungswechsel). Bei Jugendlichen, die (vorerst) keine zertifizierende Ausbildung absolvieren, wird danach unterschieden, ob sie in einem Brückenangebot oder einer arbeitsmarktlichen Maßnahme, erwerbstätig, arbeitslos oder inaktiv sind.

      Die Frage, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden, findet in der Forschung seit den 1950er-Jahren Beachtung (Schmid, 2010). Während frühe Studien Lehrvertragsauflösungen vor allem auf individuelle Merkmale der Lernenden und ihr familiäres Umfeld zurückführten, werden seit Mitte der 1990er-Jahre auch institutionelle und strukturelle Determinanten von Lehrvertragsauflösungen berücksichtigt (z. B. Bessey & Backes-Gellner, 2008; Forsblom, 2015; Lamamra & Masdonati, 2008a; Negrini, 2015; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015). Zunehmend wird auch untersucht, welche kurz- und mittelfristigen Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den weiteren Ausbildungsverlauf der Lernenden hat (z. B. Beicht & Walden, 2013; Lovric & Lamamra, 2013; Mischler, 2014; Schmid, 2010; Süss et al., 1996). Es ist heute unbestritten, dass die Gründe für Lehrvertragsauflösungen vielschichtig sind und dass Vertragsauflösungen nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance für den weiteren Ausbildungsverlauf betrachtet werden können (Baumeler et al., 2012; Schmid & Stalder, 2012; Uhly, 2015).

      Trotz zahlreicher Veröffentlichungen bleibt die Befundlage aus forschungstheoretischer und empirischer Sicht lückenhaft (vgl. dazu


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