Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg - kein Widerspruch. Barbara E Stalder
Auftragsbasierte Evaluationsstudien, die nach wie vor das Feld dominieren, stellen meist keinen expliziten Theoriebezug her und sind in der Regel querschnittlich angelegt. Häufig werden Lernende und Betriebe kurz nach der Vertragsauflösung befragt. Auch forschungsbasierte Studien berücksichtigen meist nur eine kurze Phase im Ausbildungsverlauf der betroffenen Lernenden. Sie stützen sich u. a. auf erziehungswissenschaftliche, entwicklungspsychologische, berufspädagogische, soziologische oder bildungsökonomische Ansätze. Studien, die Lehrvertragsauflösungen aus organisationspsychologischer Sicht betrachten, sind bisher rar (z. B. zur Bedeutung des Organisationsklimas vgl. Forsblom, 2015). Im Fokus vieler Evaluationen und Forschungsarbeiten stehen nach wie vor die Ursachen für die Lehrvertragsauflösung. Im Gegensatz dazu sind insbesondere die langfristigen Konsequenzen von Vertragsauflösungen kaum erforscht und es liegt bisher keine Studie vor, die den Ausbildungserfolg nach vorzeitigen Vertragsauflösungen untersucht. So fehlt ein theoretischer Rahmen, der nicht nur erklärt, wie und warum es zu Lehrvertragsauflösungen kommt, sondern auch, unter welchen Bedingungen es Jugendlichen gelingt, nach der Vertragsauflösung eine Anschlusslösung auf der Sekundarstufe II zu finden und einen Berufsabschluss zu erwerben.
Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Forschungslücke an. Im Zentrum stehen die Fragen, warum Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden und welche Konsequenzen eine Vertragsauflösung für den späteren Ausbildungserfolg der betroffenen Lernenden hat. Ursachen und Konsequenzen von Vertragsauflösungen werden in ein theoretisches Rahmenmodell gefasst, das sich an passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretischen Ansätzen der Organisationspsychologie orientiert (Allen, Bryant & Vardaman, 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Kristof-Brown, Zimmermann & Johnson, 2005; Saks & Gruman, 2012). Mit der Wahl organisationspsychologischer Ansätze wird berücksichtigt, dass die betriebliche Ausbildung in reale Arbeitsprozesse und organisationale Abläufe eingebettet ist, in denen Lernende und Berufsbildende nicht nur Auszubildende bzw. Ausbildende, sondern auch Mitarbeitende bzw. Vorgesetzte sind. Kernelement des Modells ist die Passung der Lernenden zum Beruf und zur Ausbildung in Betrieb und Berufsfachschule. Eine ausreichende Passung zwischen den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Lernenden und den Anforderungen der betrieblichen und schulischen Ausbildung ist eine wichtige Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lehrvertragsauflösungen sind als Konsequenz einer ungenügenden Passung zu verstehen – eine gelingende Neuanpassung als Vorbedingung für den späteren Ausbildungserfolg. Lernende und Betriebe tragen gemeinsam dazu bei, dass bereits vor Lehrantritt eine gute Passung besteht und dass diese nach Lehreintritt aufrechterhalten und gefestigt werden kann. Aus der Perspektive organisationspsychologischer Ansätze ist eine fehlende Passung insbesondere auf eine mangelhafte Berufs- und Organisationswahl, eine unzureichende Selektion der Lernenden durch die Betriebe oder eine schlechte Ausbildungsqualität in Betrieb und Schule zurückzuführen.
In Anlehnung an die Literatur zu Berufs- bzw. Laufbahnerfolg werden in der vorliegenden Arbeit objektive und subjektive Kriterien beigezogen, um Ausbildungserfolg zu messen (Arthur, Khapova & Wilderom, 2005; Ng, Eby, Sorensen & Feldman, 2005). Als objektiver Indikator wird der Abschluss einer zertifizierenden Ausbildung auf der Sekundarstufe II untersucht. Dieser ist zur sozialen Norm geworden und gilt als notwendige Bedingung für den erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben und für die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen (OECD & the Canadian Policy Research Networks, 2005). Als subjektive Indikatoren werden die Ausbildungszufriedenheit und die Verbundenheit mit dem Betrieb nach dem Wiedereinstieg in eine Sekundarstufe-II-Ausbildung betrachtet (vgl. Ng & Feldman, 2014). Subjektive Indikatoren von Laufbahnerfolg berücksichtigen, dass Erwerbstätige bzw. Lernende ihre Ausbildungs- und Berufslaufbahn selbst evaluieren und individuell unterschiedliche Kriterien verwenden, um «Erfolg» einzuschätzen (Arthur et al., 2005). Laufbahnerfolg wird dabei nicht nur aufgrund der aktuellen Arbeitstätigkeit erfasst, sondern auch in Abhängigkeit vom Ausbildungs- und Berufsverlauf betrachtet (Gunz & Mayrhofer, 2011). Subjektive und objektive Kriterien von Ausbildungserfolg können miteinander übereinstimmen, müssen es aber nicht zwingend, beispielsweise dann, wenn Jugendliche zwar einen Ausbildungsabschluss erreichen, dieser aber nicht ihrem Wunsch entspricht (vgl. dazu Dette et al., 2004).
Datengrundlage ist das Längsschnittprojekt LEVA (Lehrvertragsauflösungen im Kanton Bern), das von 2004 bis 2008 an der Erziehungsdirektion des Kantons Bern durchgeführt und von 2009 bis 2015 an der Universität Neuenburg und der PHBern fortgesetzt worden ist. Zur Erklärung von Lehrvertragsauflösungen und deren unmittelbaren Konsequenzen wurde ein Mehrperspektivendesign mit einer Befragung von Lernenden und ihren (ehemaligen) Berufsbildenden eingesetzt. Dieser Zugang erlaubt es, das Bedingungsgefüge von Lehrvertragsauflösungen aus der Perspektive verschiedener Akteure zu betrachten (vgl. zur Kritik an der einseitigen Fokussierung auf die Sicht der Lernenden Anbuhl & Gießler, 2012; Rohrbach-Schmidt & Uhly, 2015; Stamm, 2012). Der Ausbildungsverlauf nach der Lehrvertragsauflösung und der Ausbildungserfolg wurden längsschnittlich untersucht. Die Beobachtungsdauer von zehn Jahren ermöglicht es, nicht nur unmittelbare Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen zu prüfen, sondern auch mittel- und langfristige (z. B. Wiederaufnahme der Ausbildung nach langer Unterbrechung, Ausbildungsabschluss, Wiederherstellung des Wohlbefindens).
Das vorliegende Buch stellt ausgewählte, in Projektberichten erschienene Resultate zum Projekt LEVA zusammen (Moser, Stalder & Schmid, 2008; Schmid & Stalder, 2007, 2008a; Stalder & Schmid, 2006a) und vertieft bisherige Ergebnisse zu Entstehungsbedingungen und Konsequenzen von Lehrvertragsauflösungen (Schmid, 2008, 2010, 2012; Schmid & Stalder, 2012; Stalder, 2011a; Stalder & Schmid, 2012a). In Kapitel 2 werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze beschrieben, die die theoretische Grundlage für die Arbeit bilden. Die Ansätze werden in Kapitel 3 auf den Kontext der beruflichen Grundbildung übertragen und im Zusammenhang mit Lehrvertragsauflösungen und späterem Ausbildungserfolg erörtert. Das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» und die Daten des Projekts LEVA werden in Kapitel 4 beschrieben. Ergebnisse zu den Entstehungsbedingungen von Lehrvertragsauflösungen, zum Entscheidungsprozess, zum Wiedereinstieg und zum erfolgreichen Berufsabschluss werden in Kapitel 5 präsentiert und in Kapitel 6 diskutiert.
«Chaque cas est un cas particulier», schrieb Bernard Müller (1993, S. 4) treffend in seiner Waadtländer Studie zu Lehrvertragsauflösungen. Dies illustrieren die Porträts betroffener Lernender, die die empirischen Ergebnisse exemplarisch ergänzen, in aller Deutlichkeit. Darin kommen junge Frauen und Männer zu Wort, deren Lehrvertragsauflösung bis zu zehn Jahre zurückliegt. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte, erklären, welche Gründe aus ihrer Sicht zur Vertragsauflösung geführt haben, wie sie und ihr Umfeld damit umgegangen sind und wie es nach der Vertragsauflösung weitergegangen ist. Alle Namen der porträtierten Personen sind geändert.
2 Passung, Sozialisation und Fluktuation
In diesem Kapitel werden passungs-, sozialisations- und fluktuationstheoretische Ansätze der Organisationpsychologie vorgestellt, die die Grundlage für das Rahmenmodell «Lehrvertragsauflösung und Ausbildungserfolg» bilden (Allen et al., 2010; Bauer & Erdogan, 2011; Saks & Gruman, 2012; Wanberg, 2012). In Kapitel 2.1 werden verschiedene Ebenen von Passung dargestellt und es wird gezeigt, welche Konsequenzen eine gute bzw. ungenügende Passung auf arbeitsbezogene Einstellungen und das Verhalten von Mitarbeitenden hat. In Kapitel 2.2 steht die organisationale Sozialisation, das heißt, der Prozess der Anpassung im Vordergrund. Es wird erläutert, welche Faktoren proximale und distale Sozialisationsergebnisse beeinflussen und wie Mitarbeitende und Betriebe zu einer gelingenden Anpassung beitragen. Inbesondere wird auf das Kündigungsverhalten von Mitarbeitenden eingegangen, das als wichtiges Sozialisationsergebnis gilt.