Aufrichten in Würde. Gabriele Frick-Baer
es hilfreich ist, um sich zu schützen. Kämpfen, sich wehren, fliehen, sich verstecken, sich erwärmen für bestimmte wohltuende Menschen und anderen die kalte Schulter zeigen, all das kann „in Würde aufrichten“ beinhalten. Nicht verhärten, sondern Härte zeigen gegen Entwürdigung. Nicht zerfließen, aber weich bleiben oder weich werden.
Diese Leitorientierung hilft uns Therapeut/innen. Sie hilft auch den Menschen, mit denen wir arbeiten. Sie und wir stellen uns bei schwierigen Entscheidungen die Frage: Hilft die mögliche Lösung genau diesem bestimmten Menschen, sich in Würde aufzurichten, oder nicht? Hilft es z. B. diesem einzelnen Menschen zum Wiedererlangen seiner Würde, vor den Täter hinzutreten und ihn anzuklagen? Oder würde die Würde, die Aufrichtigkeit, eher an der Härte und grausamen Uneinsichtigkeit des Gegenübers zerschellen?
Wir achten die Kompetenz der Klient/innen zu entscheiden, welchen Schritt in der Therapie, in der Traumabewältigung sie gehen können und wollen. Die Haltung der Klient/innen-Kompetenz ist eine Voraussetzung dafür, den Weg des Aufrichtens zu beschreiten. Bevormundung, mag sie noch so gut gemeint sein, erniedrigt oder hält unten. Zu ermutigen und zu stützen, was oft und gerade in der Arbeit mit traumatisierten Menschen nötig ist, mit Erfahrungen, Meinungen und Ideen zur Bewältigung nicht hinter dem Berg zu halten, sondern sie den Klient/innen zur Verfügung zu stellen, damit sie für sie Sinnvolles auswählen können, ist etwas anderes als Bevormundung. Doch dazu später.
Der Prozess des Aufrichtens bedarf der Begleitung und des Halts. Wenn Menschen sexuelle Gewalt erfahren oder andere traumatisierende Situationen durchleben mussten, waren sie und fühlten sie sich allein. Und nach solchen Erfahrungen wurden sie erst recht oft allein gelassen, wurden sie nicht gesehen und nicht gehört, sollte allzu oft der Mantel des Schweigens über das Geschehene, über das Leiden ausgebreitet werden. Besonders, wenn dem „kindlichen Ich“ Gewalt angetan wurde und wird, versteht es die Welt nicht mehr und verliert jedes Verständnis für sich im Bezug zur Welt. Wenn dann niemand da ist, der oder die das Geschehene zurechtrückt, Täter und Opfer als solche benennt, das Unfassbare begreifbar macht, bleibt das Verständnis und Selbstverständnis auf der Strecke.
Wer kein Verständnis erlebt, kann auch kein Verständnis für sich gewinnen. Viele Opfer sexueller Gewalt haben nicht nur die Erinnerung an das traumatische Geschehen oder Teile davon verdrängt, sondern auch das Verständnis für sich verloren. „Verständnis“ beinhaltet „Verstehen“: warum sie so sind, wie sie sind; warum sie so handeln, wie sie handeln; warum sie so fühlen, wie sie fühlen. Das Ringen um Verstehen, die Suche nach Verständnis, ist oft ein verzweifelter Prozess auf Seiten der Klient/innen. Wir Therapeut/innen haben es viel leichter mit dem Verstehen: Was sich für uns als folgerichtiges Lebensmuster aus der erfahrenen Traumatisierung darstellt, was uns zutiefst verständlich ist, ist für die Klient/innen alles andere als selbstverständlich. Das müssen wir wissen und beachten und in diesem Prozess müssen wir beharrliche Anwälte des Verstehens bleiben. „Verständnis“ meint noch etwas, was über Verstehen hinaus geht: das Mitgefühl. Und das ist den traumatisierten Klient/innen oft verloren gegangen – wohlgemerkt: nicht das Mitgefühl für andere, aber das Mitgefühl für sich selbst. Mit neutraler Stimme und unbeteiligter Miene erzählen sie von dem Schrecklichen und Erniedrigenden, das ihnen widerfahren ist, als ob es das Normalste von der Welt wäre.
Erst wenn wir als Therapeut/innen und beteiligte Menschen Mitgefühl für ihr Leiden zeigen, kann ein Prozess beginnen, in dem sie selbst Mitgefühl für sich und für das Kind oder die junge Heranwachsende, die sie einmal waren, und für die, die sie heute sind, entwickeln.
Dieses Buch handelt von Verständnis in diesem doppelten Sinn. Es ist zwar auch aus Forschungsaktivitäten (qualitative Interviews mit traumatisierten Menschen und systematischer Auswertung von Therapieprozessen) entstanden, vor allem aber ist es Resultat des gemeinsamen Ringens um Verständnis. Das meiste, was ich gelernt habe und in diesem Buch weitergeben möchte, habe ich in den Begegnungen mit den Klient/innen gelernt.
Verständnis ist der Beginn des Aufrichtens, ein weiterer und oft schwieriger Weg folgt. Ich bitte die Klient/innen immer wieder zu überprüfen: „Ist der Weg, den wir einschlagen, immer noch der richtige für Sie?“ Der Weg des Aufrichtens braucht Pausen und Innehalten genauso wie mutige Sprünge nach vorn. Er beschäftigt sich mit dem Hier und Jetzt des Alltagslebens und er führt zur Begegnung mit dem Schrecken des Erfahrenen. Dieser Weg braucht Zuversicht. Manchmal, wenn der Klientin oder dem Klienten die Zuversicht zeitweilig abhanden kommt, bin ich es, die stellvertretend für sie die Zuversicht hat und hält. In einer vertrauensvollen Beziehung ist das manchmal und phasenweise der einzige Lichtblick und Orientierungspunkt in Verwirrung, Verzweiflung und Dunkelheit.
Mein Leitsatz, der es mir möglich macht, Menschen auf diesem Weg durch den Schrecken zu begleiten, lautet:
„Schrecklicher als damals, nicht einmal so schrecklich wie damals, kann es nicht werden. Denn jetzt sind Sie nicht mehr allein damit. Jetzt passe ich auf, dass Ihnen nichts passiert.“
Wenn wir diesen Satz einer Klientin oder einem Klienten sagen und aufrichtig meinen, hat er Wirkung. Zum Schrecken des Traumas, hilflos sexueller Gewalt ausgeliefert gewesen zu sein, kommt und kam vor allem der Schrecken des Alleinseins und des Alleingelassen-Werdens. Dies zu durchbrechen, Halt und Unterstützung anzubieten und mitfühlende Begleitung in den Dienst der therapeutischen Arbeit zu stellen, hilft beim Prozess des Aufrichtens und ist somit ein zentraler Leitsatz meiner Arbeit und der meiner Kolleg/innen.
Am Herzen liegt mir und uns ferner:
Wir stehen auf der Seite der Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, mitfühlend und parteilich, unterstützend und aufrichtend. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht.
Wir betrachten die Folgen traumatischen Erlebens, wie z. B. Dissoziationen, nicht als Krankheit, sondern als eine produktive, kreative Lösung, die es ermöglicht, in und nach einer als existenziell bedrohlich und unaushaltbar erlebten Situation weiterleben zu können (s. auch Becker 1992 und 2006). Das Leiden der Betroffenen, das sich aus diesen Bewältigungsstrategien ergibt, bedarf therapeutischer Begleitung, wenn sie chronisch werden und das Leben beeinträchtigen.
Wir verstehen uns als Teil der Strömung engagierter Therapeutinnen und Therapeuten, die sich, oft in Engagement und Fachlichkeit auf Judith Herman beziehend, um die Entwicklung und Verbreitung spezieller und würdigender Therapieansätze verdient gemacht haben (Huber, Reddemann und viele andere mehr).
Wir stützen uns auf die Forschungsergebnisse der Psychotraumatologie, die seit Mitte der 90er Jahre einen enormen Aufschwung des Interesses fand und zahlreiche für Diagnostik, Therapie und sonstige Hilfen wichtige Einsichten hervorbrachte (Fischer/Riedesser, van der Kolk, Farlane, Horowitz, Keilson und viele andere mehr). Der besseren Lesbarkeit willen bin ich mit Zitaten und Literaturverweisen in diesem Buch sehr sparsam umgegangen. Ich verweise auf das Literaturverzeichnis und v.a. auf eine in Vorbereitung befindliche Veröffentlichung, die ausführlich auf den Forschungsstand Bezug nehmen wird.
Was wir beitragen wollen und können, sind v.a. Modelle, Methoden und Erfahrungen kreativer Therapien. Wenn Worte allein nicht reichen, können die Ausdrucks- und Kommunikationsweisen des Tanzes, des Musizierens, des Gestaltens und der Poesie das Ungesagte und das Unsagbare hervorbringen und neue Wege des Heilens ermöglichen. Das ist unsere Erfahrung, seit wir mit Opfern sexueller Gewalt und anderer traumatisierender Erfahrungen arbeiten. Die Forschungen der Psychotraumatologie haben gezeigt, dass das Erleben vieler Traumaopfer einfriert und in Fragmente zerfällt und so verbalen Dialogen und Erzählstrukturen nicht zugänglich ist. Oft muss also über die Ebene des Verbalen hinausgegangen und an den bildhaften und anderen sensorischen Qualitäten der Fragmente angeknüpft werden. Wir haben seit vielen Jahren beobachtet, dass hier kreative Therapie in einem Maße hilft, dass ich mir eine Traumatherapie und -begleitung ohne kreativ-therapeutische Methoden kaum noch vorstellen kann.
Doch mit diesem Buch verfolge ich den Anspruch, über die Vermittlung praktischer kreativ-therapeutischer Methoden hinauszugehen bzw. sie in Verbindung zu bringen mit den grundlegenden therapeutischen Werten, Haltungen und Modellen, denen sie entspringen. Um in Worte zu fassen, was in den kreativ-therapeutischen Prozessen geschieht und wie kreative Therapien wirken, haben wir unsere theoretischen Modelle entwickelt