Aufrichten in Würde. Gabriele Frick-Baer

Aufrichten in Würde - Gabriele Frick-Baer


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möglich war. Der entscheidende Unterschied zu dieser Situation, die durch Hilflosigkeit, Einsamkeit und dem Dilemma, weder zu „Fight“ noch „Flight“ in der Lage zu sein, gekennzeichnet war, besteht in der therapeutischen Beziehung: Das Opfer ist nicht mehr allein, nicht mehr hilflos, nicht mehr überfordert, es bekommt Unterstützung, sich aus der Erniedrigung aufzurichten.

      Die Psychotrauma-Forscher kennzeichnen zusammenfassend das Trauma als „unterbrochene Informationsverarbeitung und als unterbrochene Handlung“. Die zweite große Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, besteht darin, den Prozess in Handlung und Informationsverarbeitung – im geschützten Setting der therapeutischen Beziehung – so auf der Erlebensebene fortzusetzen, dass die Unterbrechung aufgehoben und in einen Prozess der Aufrichtens und der Erfahrung von Unterstützung überführt wird.

      Aus dem beschriebenen biologisch-neuronalen Prozess des Traumaerlebens und des Traumaerinnerns sind Konsequenzen für die Traumatherapie zu ziehen. Die vier wichtigsten sind:

      Jede Therapie mit Opfern sexueller Gewalt muss eine Therapie des Erlebens sein, denn die traumatische Erfahrung ist eine Erfahrung besonderen Erlebens. Diese besondere Erlebensstruktur gilt es in der Therapie zum Thema zu machen und zu verändern. Es geht nicht nur darum, ein bestimmtes Verhalten zu ändern oder ein bestimmtes Gefühl wie den Zorn auf einen Täter zuzulassen. Es geht nicht nur um kognitive Erinnerungen oder Denkweisen. Es geht nicht nur darum, dem Schrecklichen Positives gegenüberzustellen usw. All das sind Einzelaspekte. Es geht darum, die traumatische Erfahrung als Erfahrung besonderen Erlebens ernst zu nehmen und im therapeutischen Prozess zum Thema der Veränderung zu machen.

      Nur dann werden wir unserer Überzeugung nach den Klientinnen und Klienten gerecht.

      Wir nennen diese grundsätzliche Haltung leibtherapeutisch. Das Wort „Leib“ haben wir – um an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen, worauf in Kapitel 1 schon hingewiesen wurde – aus der Phänomenologischen Philosophie übernommen. Leib bezeichnet den sich und seine Welt erlebenden Menschen. „Leib“ bedeutet „Leben“, „lebendig“. Leib meint den Menschen, der sich erlebt, ist also nicht synonym mit Körper, meint also nicht den gewogenen, gemessenen, äußerlich beschriebenen Menschen.

      Die Phänomenologische Philosophie hat die Prozesse des Erlebens untersucht und dafür eine Reihe von Begrifflichkeiten entwickelt (u.a. Merleau-Ponty 1966, Fuchs 2000). Wir haben diese Begrifflichkeiten aufgegriffen und um Ergebnisse der Säuglingsforschung (u.a. Stern 1992, Dornes 1999) und Neurowissenschaften ergänzt sowie auf der Grundlage der Auswertung unserer Erfahrungen zu einem Bündel diagnostischer Kategorien des Erlebens und leiborientierter Wege therapeutischen Veränderns erweitert, das wir Kreative Leibtherapie nennen.

      Traumatherapie muss sich auf die Besonderheiten des traumatischen Erlebens und seiner Nachwirkungen einstellen und diese zum Ausgangspunkt therapeutischen Einwirkens nehmen. Die beschriebenen Notfallreaktionen erklären z. B. die Bedeutung der Erregungsverläufe im Traumaerleben und betonen die Wichtigkeit, mit den Erregungskonturen in der Traumabewältigung zu arbeiten. Die Traumabewältigung ist wichtig, um die chronifizierte hohe Erregung zu reduzieren und die Erregungskontur zu flexibilisieren. Und die Veränderung der Erregungskontur ist notwendig, damit nicht jede hohe Erregung ein Trigger ist, ein Auslöser für die Reaktivierung der Amygdala und damit die Wiederbelebung des Traumaerlebens.

      Um solche Erregungsprozesse und ihre Veränderungen zu verstehen und zu handhaben, ist es nützlich, auf die leibtherapeutischen Modelle der Erregungskonturen und die Arbeit mit ihnen zurückzugreifen. In Kapitel 3 werde ich die für die Traumatherapie relevanten leibtherapeutischen Modelle des Verstehens und Handelns vorstellen und illustrieren, wie ich mit ihnen arbeite.

      Gerade weil der Hippocampus die in der traumatischen Situation hereinströmenden Eindrücke und Erfahrungen nicht zu einem kognitiv sortierten Bild zusammensetzen kann, sind die Betroffenen auf Erinnerungen ihres Körpers und ihrer Sinne angewiesen und diesen oft hilflos und verständnislos ausgeliefert. Über keine konsistenten Erinnerungen zu verfügen, woran viele Klient/innen verzweifeln, weil sie an ihrem Erleben zweifeln, ist kein Mangel der Betroffenen, sondern Ausdruck des neuronalen Prozesses traumatischen Erlebens. Worte, die dies den Klient/innen erklären, sind hilfreich und notwendig für ihr Verständnis für sich und ihre Selbst-Sicherheit und ihr Selbst-Vertrauen. Auf diese erklärendenden Worte haben sie ein Recht. Auch auf deren Wiederholungen, wenn das Wissen darum wieder zu entschwinden droht.

      Traumatherapie erfordert deshalb aber auch, an den Fragmenten und eingefrorenen Aspekten des Traumaerlebens anzusetzen, nicht nur an den kognitiven Reflektionen oder Bewertungen, sondern v.a. an sinnlichen Eindrücken wie Bilderfetzen, Geräuschen, Gerüchen sowie Erregungskonturen und körperlichen Aktionen und Reaktionen. Dies ist der tiefe Grund, warum Worte allein oft nicht reichen, warum Körperarbeit Zugänge verschafft und Veränderungen ermöglicht, warum z. B. Musiktherapie Erregungskonturen aufweichen und umwandeln kann und Kunsttherapie Bilderfetzen und andere sinnliche Fragmente re-integrieren kann.

      Die Integration künstlerischer Medien in die Traumatherapie findet darin ihre Begründung und Legitimation. Entgegen manchen Vorurteilen ist die kreative oder künstlerische Therapie mehr als Basteln und mehr als das Malen eines Bildes, über das dann „therapeutisch“ geredet wird.

      Künstlerische Medien in der Traumatherapie

       ermöglichen Zugänge zum subverbalen und nonverbalen Erleben des Traumas,

       bieten Chancen, Veränderungen des Erlebens und Verhaltens spielerisch-experimentell auszuprobieren,

       ermöglichen Erinnern über die Sinneserfahrungen sowie gleichzeitig und darüber hinaus neue Erfahrungen der Sinne,

       ermutigen und üben, zu greifen und zu ergreifen: Pinsel und Ton, Stoffe und Hände, Papier und Instrumente

       öffnen Wege aus der Erstarrung,

       bieten Chancen, ein Aufrichten körperlich-seelisch „probeweise“ zu er leben und individuelle Wege des Aufrichtens zu erproben,

       geben Hinweise auf Spuren, die Dissoziierungen hinterlassen haben, und öffnen Wege der Entdissoziierung und Wiedergewinnung von Lebendigkeit,

       lassen Unaussprechliches erklingen und ermöglichen niedrigschwellige Formen, mit dem Bruch des Schweigetabus zu beginnen,

       ermöglichen neues Erleben und so auch neue und andere Worte,

       können Erregungsverläufe hörbar und tanzbar und somit veränderbar werden lassen,

       können Sinn und Spaß machen und Lebensfreude wiederbeleben

       …

      Traumatherapie ohne kreative Medien ist für mich nicht mehr vorstellbar. Das wird Ausdruck meiner persönlichen und therapeutischen Geschichte und Lebenserfahrung sein. Mir ist es ein großes Anliegen, alle Traumatherapeut/innen zu ermutigen, in dieser Richtung wenigstens das eine oder andere Experiment zu wagen. Sicherlich ist für die sichere Handhabung eine Aus-oder Weiterbildung in einer künstlerischen Therapie sinnvoll. Doch auch viele einzelne Elemente aus dem breiten Fundus künstlerischer Therapien können von erfahrenen Traumatherapeut/innen in ihre Arbeit integriert werden. Deswegen werde ich in Kapitel 4 einige dieser Methoden vorstellen, die sich in meiner traumatherapeutischen Praxis besonders bewährt haben und in der Fortbildung und Supervision von Traumatherapeut/innen Anklang und Bestätigung durch deren traumatherapeutische Praxis gefunden haben. Dabei bin ich mir bewusst, dass die schriftliche


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