Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen. Michael De Boni

Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen - Michael De Boni


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Buch möchte zunächst bewusst machen, dass es völlig normal ist, wenn Eltern, Erzieher und auch die Jugendlichen an ihre Grenzen stoßen und manchmal überfordert sind. Es zeigt zugleich, dass es Wege gibt, solche Phasen auszuhalten und anzugehen – und dass es sich lohnt, die vorhandenen Ressourcen und Potenziale in den Jugendlichen zu entdecken und zu fördern; wir werden deshalb auch immer wieder auf eine förder- und unterstützungsorientierte Haltung hinweisen, die im klaren Gegensatz zu einer defizitorientierten Sichtweise steht.

      Vor dem Hintergrund des gewaltigen Themenhorizontes der Adoleszenz galt es, eine Auswahl zu treffen und einige wenige Aspekte zu analysieren. Wir haben uns dabei von unserer Erfahrung aus eigener Lehrtätigkeit in der Sekundarstufe II und aus unzähligen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen, die wir durchgeführt haben, leiten lassen. Theorie und Praxis sollen sich, wenn immer möglich, verbinden; dabei können die angefügten Instrumente (Tabellen, Checklisten usw.) dienlich sein. So lässt sich die Publi­kation auch als Arbeitsbuch verwenden, das in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden kann.

      Große Aufmerksamkeit widmen wir der Hirnentwicklung während der Jugendphase und den neueren Erkenntnissen aus den kognitiven Neurowissenschaften. Tatsächlich sind wir überzeugt, dass die Ergebnisse der aktuellen Hirnforschung in der Diskussion um eine gelingende Erziehung neue Perspektiven eröffnen können. Vor allem der Zusammenhang zwischen Hirnentwicklung und bestimmten Verhaltensweisen von Jugendlichen, die für Erwachsene manchmal kaum nachvollziehbar sind, wird durch die Forschungserkenntnisse besser verständlich. Ebenso kann die Hirnforschung die starken Stimmungsschwankungen und das manchmal instabile Selbstbild und Selbstwerterleben besser erklären. Die hier dargelegten Zusammenhänge zwischen Hirnforschungsergebnissen und Adoleszenz werden aber nicht theoretisch abgehandelt, vielmehr sollen sie Eltern, Lehrpersonen und Ausbildern zusätzliche Informationen für den konkreten Umgang mit Jugendlichen in der Praxis vermitteln. Es geht uns also vor allem darum, Theoriewissen so aufzubereiten, dass Menschen im Umgang mit Jugendlichen in ihren erzieherischen Bemühungen unterstützt werden. Dies kommt unter anderem auch in Kapiteln wie »Wohlwollende Präsenz« oder »Halt und Orientierung« explizit zum Ausdruck.

      Wir haben uns bemüht, uns möglichst auf die Phase der Adoleszenz zu konzentrieren, also etwa die Zeit vom 16. Altersjahr bis ins junge Erwachsenenalter. So kann das Buch Lehrpersonen und Eltern dienen, wenn sie sich über Jugendliche informieren wollen, die in einer Berufslehre oder in der Sekundarstufe sind. Damit grenzt es sich von Publikationen ab, die sich all­gemein mit der »Jugendzeit« oder mit der »Pubertät« beschäftigen. Im vorliegenden Werk wird zum Beispiel nur dann auf »pubertäre« Phänomene Bezug genommen, wenn sie sich auch noch in der Adoleszenz bemerkbar machen.

      Das Buch ist so aufgebaut, dass man es als »Lesebuch« verwenden kann, indem man sich einen Überblick über aktuelle Themen der Adoleszenz verschafft. Es kann aber auch als Nachschlagewerk oder als Arbeitsbuch Verwendung finden. Inhaltlich richtet es sich nicht spezifisch an Fachleute; pädagogisches oder psychologisches Vorwissen wird also nicht vorausgesetzt. Wer sich mit einigen Schwerpunkten der Adoleszenz vertraut machen will, findet hier einen Einstieg in die Thematik.

      Esther Lauper und Michael De Boni

      Zürich, im Januar 2013

      Zu den Bildern in diesem Buch

      Die Fotos in diesem Band stammen von Clara Neugebauer. Die 17-jährige Zürcherin hat nach dem Abschluss der Sekundarschule den gestalterischen Vorkurs an der F+F Schule für Kunst und Mediendesign besucht. Sie hat 2012 eine Ausbildung als Grafikerin begonnen. Für dieses Buch hat sie Jugendliche bei Aktivitäten, die ihnen am Herzen liegen, begleitet und fotografiert und ihren Berichten zugehört. Das Coverfoto der jungen »Fotografin mit Hund.h.t Noëmi Roos aufgenommen.

      1 Besichtigung einer Großbaustelle

      Das jugendliche Gehirn

      Bestimmte Denk- und Verhaltensmuster treten fast nur in der ­Jugendzeit auf. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit den massiven Veränderungsprozessen im Gehirn, die in dieser Lebensphase stattfinden. Die Neurowissenschaften decken solche Zusammenhänge auf und liefern damit auch neue Anstöße und Einsichten für Erziehung und Unterricht. Das ist der Grund, weshalb wir den ­Gehirnfunktionen und ihrer Entwicklung ein eigenes, ausführliches Kapitel widmen.

      In diesen Abschnitten stehen die folgenden Fragen im Zentrum:

      • Welche Teile des Gehirns und welche Aspekte der Gehirnentwicklung spielen während der Adoleszenz eine besonders wichtige Rolle?

      • Was ist das »frontale Phänomen«, wie zeigt es sich, und welche Funktion hat dabei das limbische System?

      • Wie wirken sich die neuronalen Veränderungen auf das Verhalten und das Selbstbild von Jugendlichen aus?

      • Was bedeuten diese Erkenntnisse fürs Lernen, für die Erziehung und den Unterricht?

      Wir deuten aus neuropsychologischer Sicht jugendliche Verhaltensweisen, die sich anders nur schwer erklären lassen, und zeigen, was Jugendliche von uns Erwachsenen brauchen, um mit den neurologischen Veränderungen dieser Lebensphase möglichst produktiv umzugehen. Letztlich geht es um die Frage, mit welchen Mitteln und Maßnahmen wir zur Stabilisierung des Jugendgehirns beitragen können, um den Lern- und Ausbildungserfolg zu unterstützen. Dass Jugendliche in instabilen Entwicklungsphasen einer Außenstabilisierung bedürfen, ist unbestritten – sie werden uns dafür dankbar sein, zumindest im Nachhinein. Auf der anderen Seite wären allzu viele Interventionen von Erwachsenen eher kontraproduktiv. Das Jugendgehirn muss letztlich selbst lernen, Stabilisierungskräfte zu mobilisieren.

      Hirnforschung und kognitive Psychologie

      Das Wissen der Hirnforschung wächst derzeit fast explosionsartig. Viele »neue« Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaften sind aber nicht im eigentlichen Sinne neu, sondern bestätigen lediglich Erfahrungswerte der Erziehungswissenschaften und der Psychologie. Die neuen bildgebenden Verfahren (Computertomografie) erlauben Einblicke in funktionale Prozesse des Gehirns. Das lässt auf naturwissenschaftlicher Basis Grundlagenforschung zu, wie sie vorher nicht möglich war. Dabei ergänzen sich die kognitiven Neurowissenschaften und die traditionelle kognitive Psychologie nahezu ideal.

      Dass wir den Ergebnissen der Hirnforschung einige Bedeutung beimessen, heißt nicht, dass wir uns den neuen »Neuro-Mythen« (Jäncke 2009) verschrieben hätten, die den Diskurs zwischen kognitiven Neurowissenschaften, kognitiver Psychologie und Erziehungswissenschaften oft prägen. Die kognitive Psychologie hat exzellentes Wissen über Lernen aufgebaut, das den Pädagog/innen seit Jahrzehnten zur Verfügung steht. Diese Ansicht vertreten auch Blakemore und Frith: »Der Dialog zwischen den Disziplinen bedarf eines Vermittlers, damit nicht eine Disziplin über die andere dominiert. Beim Dialog zwischen Hirnforschung und Erziehungswissenschaft ist der kognitiven Psychologie diese Rolle geradezu auf den Leib geschnitten. Wir meinen, dass die Hirnforschung am ehesten auf dem Weg über kognitive Psychologie Eingang in die Lehr-Lern-Forschung finden kann« (Blakemore/Frith 2006, S. 23).

      Allerdings sind wir gleichzeitig überzeugt, dass dank neuem Wissen über die Plastizität des Gehirns – zum Beispiel über die Reifungsprozesse im Frontalcortex und die Umbauprozesse während der Phasen der jugendlichen Reife – das Verhalten Jugendlicher besser verständlich wird. Ähnliche Ansichten vertritt auch Jäncke (2009), wenn er darauf hinweist, dass aktuelle Befunde aus dem Umfeld der Neurowissenschaften für Lehrpersonen von Interesse sind und »neue Denkanstöße« für den Schulalltag liefern können.

      Unser Augenmerk gilt nicht nur den »rein kognitiven« Lernprozessen, sondern vor allem auch den Hirnprozessen, die emotionales und soziales Verhalten beeinflussen. Hier kann die Neurowissenschaft sogar völlig neue Erkenntnisse bieten. Um den Rahmen nicht zu sprengen, werden im Folgenden nur ausgewählte Schwerpunkte aus der neueren Forschung berücksichtigt.

      Gehirnentwicklung in der Adoleszenz

      Jugendliche sind von der frühen Adoleszenz bis ins junge Erwachsenenalter (bis ca. 22 Jahre) dramatischen psychischen und physischen


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