Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen. Michael De Boni
weil sich diese affektiven Zustände plötzlich und scheinbar völlig grundlos zeigen. Nicht die verbalen Verletzungen oder physischen Selbst- und Fremdgefährdungen sind aber das Ziel solcher Handlungen, sondern der rauschhafte und übersteigerte Zustand selbst. Es ist dann einfach »toll«, etwas ganz Verrücktes zu tun. Die Folgen der Handlungen werden nicht mehr kognitiv kontrolliert, weil der Zustand eines übersteigerten »Größenselbst« eine rauschartige Wirkung erzielt.
Wie lässt sich das hirnphysiologisch erklären? Kleinste Veränderungen der Botenstoffe, welche die Informationen über die Synapsen (Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen) weiterleiten, können genügen, um die Impuls- und Gefühlskontrolle aus dem Gleichgewicht zu bringen. Oft spielt dabei das Testosteron (männliches Geschlechtshormon) eine Rolle; es ist aber keinesfalls allein ausschlaggebend bei aggressivem oder rauschartigem Verhalten oder allgemein bei Kontrollverlusten. Dennoch sind junge Männer, statistisch gesehen, risikofreudiger und allgemein aggressiver als der Durchschnitt der Bevölkerung, da sie über einen besonders hohen Testosteronspiegel verfügen.
Mindestens ebenso bedeutsam im Zusammenhang mit risikoreichem Verhalten ist der Hirnbotenstoff Serotonin. Von den Raphe-Kernen ausgehend (vgl. Abbildung 13), versorgt er weite Teile des Großhirns, wo er die Reizweiterleitung an den Synapsen beeinflusst. Dabei kann es passieren, dass spontane emotionale Reaktionen des limbischen Systems nur noch unzureichend vom präfrontalen Cortex gehemmt werden, weil die Impulse aus dem limbischen System sehr stark sind und die lenkenden Strukturen des frontalen Cortex überfordern. Insbesondere der orbitofrontale Abschnitt des Cortex erfüllt wichtige Funktionen bei der Impulskontrolle. Während bei niederen Säugetieren die Neigung zu Aggressivität verstärkt ist, scheint das bei Primaten und Menschen nicht zwangsläufig der Fall zu sein. Lediglich nach sportlichem oder sozialem Erfolg steigt der Testosteronspiegel im Blut deutlich an – und zwar bei beiden Geschlechtern, wenn auch der Hormonspiegel bei Männern durchweg höher ist. Möglicherweise fördert die Erinnerung an das mit dem Sieg verbundene Erregungsgefühl dann das risikoreiche Verhalten: Man möchte den Rauschzustand noch einmal erleben (Hülshoff 2006, S. 34). Die unmittelbare Belohnung, die sich aus einer risikoreichen Fahrt durch den Tiefschnee ergibt, lockt also so stark, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung durch den präfrontalen Cortex gar nicht mehr ausgeführt wird. Und die Erinnerung an die Rauschgefühle und die Größenselbst-Erfahrungen scheinen jugendliche Raser oder auch Hooligans fast magisch zu ihrem Risikoverhalten zu treiben. Die Frage, inwieweit Einsicht bei Jugendlichen, die sich sehr risikoreich verhalten, überhaupt möglich ist, bleibt somit offen. Selbst wenn die Konsequenzen riskanten Verhaltens aus zeitlicher Distanz eingesehen werden, kann nichts und niemand garantieren, dass in einer zukünftigen Situation diese Einsicht weiterwirkt und risikoreiches Verhalten vermieden wird.
»Subito Fun« oder »Geduld bringt Rosen«?
Nach einem neuen Modell der Lustbewertung im Gehirn finden sich »Lustzentren« über das gesamte Gehirn verteilt, auch in Cortexregionen. Einen wichtigen Teil übernehmen dabei der Nucleus accumbens und das ventrale Pallidum (beide gehören zum limbischen System). Der orbitofrontale Cortex spielt bei der Verarbeitung von Lust und Freude ebenfalls eine wesentliche Rolle. Von dieser Hirnregion ist schon länger bekannt, dass sie an der emotionalen Bewertung von Sinnesreizen beteiligt ist. Ob wir schmecken, tasten, sehen oder hören – alle diese Signale wandern von den Sinnesreizen zunächst zu den entsprechenden sensorischen Feldern der Großhirnrinde und dann über die Bahnen des Opioid- und Dopaminsystems zum orbitofrontalen Cortex. Er entscheidet ferner auch, »wann wir es leid sind, einem Genuss zu frönen. Verantwortlich dafür ist ein Effekt, den Forscher als ‹reizspezifische Ermüdung› bezeichnen. Irgendwann verliert eben auch die schönste Belohnung ihren Reiz. Vermutlich hat dies mit nachlassender Aktivität der Lustzellen im orbitofrontalen Cortex zu tun. (…) Vielleicht wirken harte Drogen deshalb so verhängnisvoll, weil sie den orbitofrontalen Cortex umgehen und die Opioid- und Dopaminsysteme direkt anzapfen. So würde die natürliche Notbremse ausgeschaltet – und der Genuss zur Sucht« (Philipps 2007, S. 24).
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Das schwankende Selbstbild in der Adoleszenz
Auch die Hirngebiete, die mit der Entwicklung eines kohärenten, stabilen Selbstbildes zu tun haben und für das Selbstbewusstsein verantwortlich sind, befinden sich während der Adoleszenz in einem »Umbauprozess«. Diese neuronalen »Selbstrepräsentationen« sind über mehrere Hirnregionen verteilt. Beteiligt sind namentlich die in Abbildung 1-15 (Seite 36) dargestellten Areale. Vor allem sind es Gebiete auf der Innenseite der Hirnhälften, an der cortikalen Mittellinie. Aber auch cinguläre, orbitofrontale und präfrontale cortikale Regionen sind beteiligt, zusätzlich Gebiete des Scheitellappens, die Amygdala und die Insula.
Die heutige Psychologie versteht das »Selbst« als dynamisches Konstrukt, das sich ständig verändert und dennoch ungemein stabil ist. Wir erleben uns im Alltag biologisch, psychologisch und biografisch als etwas Konstantes, es ist ein »Gefühl der Vertrautheit mit uns selbst«. Dies führt zu einer verlässlichen Selbstwahrnehmung. Nur so können wir uns als Handelnde psychisch und physisch in und mit unserer Umwelt erleben. Das Selbsterleben ist, hirnphysiologisch betrachtet, ein sehr komplexes Geschehen, es sind Bereiche des Gehirns beteiligt, die von den »Umbauprozessen« während der Adoleszenz mitbetroffen sind. Schwankungen des Selbstgefühls und die intensive Beschäftigung mit dem äußeren Körperselbst, gepaart mit ständigen Neubewertungen, sind hirnphysiologisch offensichtlich normal, vor allem während der Adoleszenz.
Welche Hirnstrukturen sind am Zustandekommen des Selbst oder des Selbstgefühls beteiligt? Antonio Damasio (2009) hat dazu drei Ebenen definiert, die zusammen die Erfahrung eines persönlichen Selbst ermöglichen: Damasio unterscheidet ein »Protoselbst«, ein »Kernselbst« und ein »autobiografisches Selbst«.
Das Protoselbst stellt eine Art neuronale Grundlage des Organismus dar. Diese Funktionen bleiben völlig unbewusst. Sie sind für die körperlichen Abläufe zuständig und vermitteln das »Hintergrundgefühl« – im Sinne eines inneren Gleichgewichts. Nur wenn in diesen Bereichen Probleme auftreten, werden höhere Hirnzentren aufmerksam. Störungen des Protoselbst können sich als innere Unruhe ausdrücken, oder man hat das Gefühl, dass »etwas mit einem nicht stimmt«. Die Zentren für das Protoselbst sind tiefe Strukturen des Gehirns, nämlich der Hirnstamm, das Mittelhirn und der Hypothalamus. Signale des Protoselbst erzeugen im Kernselbst zum Beispiel Hungergefühle usw.
Die mittlere Ebene bezeichnet Damasio als Kernselbst. Dieses bewusste Selbst vermittelt uns ständig ein zeitliches und örtliches Präsenzgefühl im »Hier und Jetzt«. Das Thema des Kernselbst ist die Interaktion mit der Umwelt. Dabei erlebe ich mich immer als eine dieser Umwelt gegenüber abgegrenzte, körperliche und geistige Einheit. Fallen diese Funktionen aus, dann entstehen dramatische Veränderungen in der Selbstwahrnehmung. Der Neurologe Oliver Sacks (2009) schildert einen Patienten, der eines Morgens ein »fremdes Bein« neben sich im Bett vorfindet. Der Patient denkt zuerst an einen üblen Scherz des Krankenhauspersonals. Als er das »fremde Bein« aus dem Bett werfen will, fällt er selbst aus dem Bett: Das »fremde Bein« ist sein eigenes. Er gerät daraufhin derart außer sich, dass er das halbe Krankenhaus zusammenruft. Auf dem Boden liegend und wild gestikulierend, wird er von Oliver Sacks vorgefunden. Das Kernselbst des Patienten hat ihm das Gefühl, dass sein Bein zu ihm gehört, nicht mehr liefern können. Wenn man das eigene Gesicht unter Fremden auf einer Fotografie betrachtet, werden übrigens auch die Hirnregionen aktiviert,