Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen. Michael De Boni
oberste Ebene des Selbst ist bei Damasio das autobiografische Selbst. Dank ihm können wir unser Verhalten reflektieren und gezielt beeinflussen. Im Gegensatz zum Kernselbst, das für den Vollzug der Interaktion mit der Umwelt wesentlich ist, ermöglicht das autobiografische Selbst auch eine Art Außensicht. Ich kann mich in einer Situation gleichzeitig als Zuschauer und als Agierender auf der Bühne des Geschehens wahrnehmen. Dafür braucht es ein »sprachliches Bewusstsein«. Aus diesem Grund ist beim autobiografischen Selbst, neben dem präfrontalen Cortex und dem Hippocampus, auch das Broca-Areal (das motorische Sprachzentrum) beteiligt. Da das autobiografische Selbst auch fremdes Verhalten reflektiert, sind neben präfrontalen Regionen auch parietale Regionen (Scheitelbereich) aktiviert, die für die Wahrnehmung fremder Bewegungen zuständig sind.
Warum entwickelt sich etwas wie ein Selbst, und welche Bedeutung hat dieses Selbst für die Persönlichkeitsentwicklung während der Jugendphase?
Es ist für einen Organismus wichtig, dass er die Fähigkeit zu »selbstreflexiven Prozessen« besitzt. Der Hauptvorteil liegt in der Gefühlskontrolle. Indem wir uns der eigenen Gefühle bewusst werden, können wir sie bewerten, also unter Umständen auch neu bewerten oder sogar modulieren. Dadurch bekommen die Kontrollprozesse mehr Handlungsspielraum – ein situationsgerechtes Verhalten wird möglich. Wenn die Hirnprozesse, die für das Selbsterleben zuständig sind, noch nicht stabil sind, weil sie sich in einer neuronalen Umbauphase befinden, kann dieses Selbsterleben dramatischen Schwankungen unterliegen. »Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt« ist eines der Phänomene, die in der Jugendzeit vermehrt auftreten. Starke Schwankungen des Selbstgefühls, wie Selbstüberschätzung, -überhöhung, aber auch -entwertung – man findet sich plötzlich nicht mehr liebenswert – bis hin zu Suizidgedanken, sind »Hirnentwicklungsphänomene«, die typisch für die Jugendzeit sind.
Abbildung 1-15 (a und b) zeigt, welche Hirnregionen für die verschiedenen Ebenen des Selbst zuständig sind. Es lässt sich daraus erahnen, wie komplex und damit auch störungsanfällig die psychischen Prozesse sind, die das »innere Gefühl« eines kohärenten und stabilen Selbstbildes vermitteln.
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Das »frontale Phänomen« im Überblick
Während der Adoleszenz finden im Gehirn dramatische Entwicklungsprozesse statt. Betroffen sind vor allem die Regionen im Frontalhirn, die es uns ermöglichen, zielgerichtet zu handeln. Viele Autoren sprechen pauschal vom Frontalhirn, meinen aber alle Regionen, die für die modulierenden (hemmenden und lenkenden) Prozesse zuständig sind. Das sind, neben andern frontalen und cingulären Hirnarealen, der präfrontale und der orbitale Cortex (vgl. Abbildung 16 ). Wenn im Folgenden einfachheitshalber vom Frontalhirn gesprochen wird, dann sind besonders diese Areale gemeint.
Damit zielgerichtetes Handeln überhaupt möglich ist, müssen verschiedene alternative Handlungsoptionen differenziert und Strebungen unterdrückt werden; gewisse Wünsche und Bedürfnisse bleiben unbefriedigt. Manchmal gilt es, zielgerichtet zu handeln, unabhängig von der Motivationslage, von der Umgebung oder gar von Schmerzen. Hier hat das Frontalhirn eine wesentliche Funktion, und zwar, indem reflexhaftes oder triebhaftes Verhalten gehemmt oder moduliert wird:
»Mein Frontalhirn sorgt dafür, dass ich nicht immer gerade das tue, was ich von meinen körperlichen Bedürfnissen her jetzt und hier unmittelbar eigentlich am liebsten tun würde. Ich kann die Zeit zwischen Input und Output überbrücken, etwas einschieben oder aufschieben, mich also von der Umittelbarkeit des Augenblicks in meinen Handlungen lösen. Mein Frontalhirn sorgt dafür, dass mein Handeln nicht nur von der unmittelbaren Umgebung geleitet wird, also beispielsweise von dem Duft guten Essens, sondern zusätzlich von wichtigen Rahmenbedingungen meines Lebens. Im Frontallappen ist der, wie man heute allgemein gern sagt,Kontext meines Handelns repräsentiert. Dieser Kontext ist ganz konkret diejenige hierarchisch geordnete Struktur von Fakten, Zielen, Gefühlen und Rahmenbedingungen, die mein Handeln leiten. Ein wichtiger Teil dieses Kontextes sind die Mitmenschen und meine Einschätzung von deren Gedanken, Zielen und Bedürfnissen. Wie wir gesehen haben, ist ein wesentlicher Motor kooperativen Verhaltens das Einplanen der Gefühle und Handlungen. Daher ist das Frontalhirn wesentlich für funktionierendes Sozialverhalten und das Sich-in-andere-hinein-Versetzen, die Empathie« (Spitzer 2002, S. 331).
Was bedeutet all dies für Lernen, Erziehung und Unterricht?
Nach der Pubertät (mit ca. 11 bis 15 Jahren) und während der ganzen Adoleszenz (mit ca. 16 bis 21 Jahren) befinden sich die frontalen Hirnregionen, die für wesentliche Exekutivfunktionen zuständig sind, noch in Entwicklung. Der Begriff Baustelle trifft tatsächlich zu, denn es ist die »Hardware«, die sich während der Jugendzeit neu formiert und strukturiert. Die massive Umbauphase erreicht ihren Höhepunkt etwa mit 12 bis 15 Jahren, aber die »Neu- und Umverkabelung« dauert weit länger, nämlich bis über das 20. Lebensjahr hinaus. Danach sind die Umstrukturierungsprozesse nicht mehr derart verhaltensbestimmend.
Wenn man sich überlegt, welches die steuernden, kontrollierenden und ausführenden Funktionen (Exekutivfunktionen) sind, die sich hirnphysiologisch während der Jugendzeit erst noch entwickeln müssen, wird auch nachvollziehbar, warum Jugendliche aus der Sicht Erwachsener oft so unberechenbar, launisch und unmotiviert erscheinen. Sie lassen sich schnell ablenken, verfügen zuweilen über wenig Durchhaltevermögen und können unzuverlässig sein. Sie haben Mühe, Verbindlichkeiten einzuhalten, nicht weil sie diese nicht einhalten wollen, sondern weil sie je nach Stimmungslage und Befindlichkeit nicht die notwendige Disziplin aufbringen können. Jugendliche stehen sich manchmal selbst verständnislos gegenüber; sie können oftmals keinen Grund für ihre Stimmungsschwankungen und ihre Spontanhandlungen nennen. Sie führen Handlungen durch, die sie in größte Schwierigkeiten bringen und die ihnen im Nachhinein selbst absurd vorkommen. Anders ausgedrückt: Sie können sich selbst nicht erklären, wer oder was sie zu einer Handlung veranlasst hat, nur, dass sie diesen Impulsen keinen Widerstand entgegenstellen konnten. Es wird nachvollziehbar, warum die meisten Gewalttaten Jugendlicher in alkoholisiertem Zustand stattfinden, da durch den Alkohol kontrollierende Hirnprozesse zusätzlich beeinträchtigt werden. Zwischen der verrückten Idee und dem Ausführen einer Handlung ist dann keine Instanz mehr dazwischengeschaltet.
Überraschende Ausfälle (unangemessene Vorkommnisse) und fehlende Impulskontrolle können genauso mit der Hirnentwicklung zusammenhängen wie plötzliche Überemotionalität. Selbstverständlich können Grenzüberschreitungen, Störungen des Unterrichts, Distanzlosigkeit oder zum Beispiel eine erhöhte Eskalationsbereitschaft nicht geduldet werden. Diese Vorkommnisse müssen aber auch aus neurologischer Sicht betrachtet werden: Eine/n Lernenden verurteilen wir also wegen solcher Verhaltensweisen und einzelner Vorkommnisse nicht, es geht nicht um Charaktermängel, sondern eher um »Betriebsstörungen« des jugendlichen Gehirns.
Eine pädagogisch abgestützte Intervention erschöpft sich nicht darin, jugendliches Fehlverhalten nicht zu tolerieren und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Vielmehr sollte sie das Erlernen einer alternativen Verhaltensweise ermöglichen. Wichtiger als eine Sanktion ist das Gespräch mit dem/der Jugendlichen, in dem geklärt wird, wie die Impulskontrolle bei der nächsten ähnlichen Situation funktionieren könnte – damit es immer weniger solche Ausfälle gibt und das jugendliche Gehirn lernt, mittels Impulskontrolle, Rationalisierung und emotionaler Verarbeitung (statt affektiven Ausagierens) sozial angepasstes Verhalten zu zeigen. Hilfreich können ritualisierte Vereinbarungen sein – zum Beispiel ein Zeichen, das für jede/n das Recht auf ein kurzes Time-out anzeigt. Oder eine Linksdrehung, wenn man merkt, dass die Wut hochsteigt, oder der Einsatz von gelben