Das Naturwiesland der Schweiz und Mitteleuropas. Andreas Bosshard
zudem der Einsatz von Giftködern zur Mäusebekämpfung.
Wenn die Nutzungsaufgabe dagegen an Standorten erfolgt, an denen die Wüchsigkeit nicht ausreicht für den Aufbau eines Streuefilzes, oder an denen der Streuefilz sehr rasch abgebaut wird zum Beispiel durch Windeinwirkung – also dann, wenn sich die Vegetation links des Buckels der Grime-Kurve befindet (Abb. 17) –, dann resultiert meist nur ein geringer Einfluss auf die Pflanzenartenzusammensetzung. Zum Beispiel in sehr magerem Wiesland führt die Nutzungsaufgabe und Verbrachung also nicht zu einem Artenverlust.
Mittelfristig geht der Verbrachungsprozess auf waldfähigen Standorten in eine Verbuschung und Bewaldung über, was zu einer vollständigen Verdrängung der Wieslandarten durch Waldarten und generell zu einer starken Artenverarmung führt. Wie lange dieser Prozess dauert, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Bei hohem Sameneintrag entsprechender Gehölze, beim Vorhandensein von Wurzelbruten (Espe, Schwarzdorn), bei günstigen Wuchsbedingungen und bei einer nicht zu hohen Biomasseproduktion des Wieslandbestandes kann eine Wiese oder Weide bereits nach wenigen Jahren verbuschen und einwalden. Sind die Voraussetzungen dagegen für die Etablierung von Gehölzen ungünstig, kann dieser Prozess unter Umständen Jahrzehnte dauern (SCHREIBER et al. 2009; ZOLLER et al. 1984).
Begrenzte Flächenanteile verschiedener Sukzessionsstadien können die Artenvielfalt von Wiesen und Weiden zwar erhöhen. Höhere Anteile führen jedoch immer zu einem Rückgang der Artenvielfalt, teilweise auch zu einer erhöhten Erosionsanfälligkeit (Kap. 2.6 und 3.3; Abb. 26).
Rund 80 Prozent der floristisch wertvollen Wieslandflächen liegen im Sömmerungsgebiet und in den Bergzonen III und IV (STöCKLIN et al. 2007). Diese Flächen sind durch die Nutzungsaufgabe und die Wiederbewaldung besonders stark gefährdet (Kap. 6.10).
2.4.6 Bewässerung beziehungsweise Entwässerung und Artenvielfalt
Die höchste Artenvielfalt und die meisten selteneren Arten kommen entweder an trockenen beziehungsweise wechseltrockenen oder an feuchten beziehungsweise vernässten Standorten vor. Eine Nivellierung der Standortbedingungen durch Ent- oder Bewässerung erhöht zwar das Ertragspotenzial der betreffenden Fläche, wirkt sich aber fast immer stark negativ auf die Biodiversität im Wiesland aus. Die Entwässerungen von artenreichem Wiesland, zum Beispiel von Streuwiesen oder Mooren, ist heute in der Schweiz weit fortgeschritten und wird heute aus gesetzlichen Gründen so gut wie nicht mehr praktiziert. Gut 90 Prozent der ehemaligen Feuchtgebiete der Schweiz sind heute entwässert (LACHAT et al. 2010; GIMMI et al. 2011) und in ertragreiches, intensiv genutztes Wiesland oder Ackerland überführt worden. Darüber hinaus sind Tausende von Hektaren ehemals wechselfeuchtes Wiesland drainiert worden.
Die Bewässerung ist demgegenüber in Mitteleuropa von untergeordneter Bedeutung im Hinblick auf die Erhaltung der Biodiversität, hat aber in jüngster Zeit in trockeneren Regionen des Berggebietes stark zugenommen und die Artenvielfalt des Wieslandes beispielsweise im Unterengadin breits wesentlich beeinträchtigt (GRAF und KORNER 2011; GRAF et al. 2014). Dennoch wird in diesen Regionen weiterhin mit einer Zunahme von Bewässerungsprojekten mit Sprinkleranlagen gerechnet.
2.4.7 Strukturvielfalt als zentraler Faktor für die faunistische Biodiversität
Während für die Pflanzenbiodiversität vor allem die Standort- und Nutzungsvielfalt von grosser Bedeutung ist, gilt dies bei der Fauna vor allem für die Strukturvielfalt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Strukturen innerhalb einer Nutzungseinheit (Parzellenebene) und der Nutzungsvielfalt zwischen den Parzellen (Landschaftsebene; Abb. 22). Auf beiden Ebenen von Strukturvielfalt spielen die Art, die Vielfalt und die räumliche Verteilung der Strukturen eine grosse Rolle. Je kleinräumiger diese Parameter ausgebildet sind, desto attraktiver ist ein Landschaftsausschnitt in der Regel für die Fauna. Vor allem bei Mähwiesen ist Stukturvielfalt oft mit einem beträchtlichen Mehraufwand verbunden, vor allem dort, wo grosse Maschinen zum Einsatz kommen. In Weiden entsteht Strukturvielfalt dagegen oft von selbst.
Abb. 22. Links: Strukturen und Kleinräumigkeit der Wieslandnutzung sind ein zentraler Faktor für die Artenvielfalt. Nutzungsmosaik mit Stufenrainen bei Tschlin im Engadin (CH). Rechts: Zur Strukturvielfalt gehört auch die Vielfalt der Wiesennutzung. Je höher die Anzahl Nutzungstypen – beispielsweise verschiedene Intensitätsstufen, Mahd, Beweidung usw. (Abb. 3–6) – desto höher die Anzahl Pflanzenarten des Wieslandes – nicht nur auf Landschaftsebene (Grafik), sondern auch innerhalb der Parzellen. Die Daten stammen von 12 Gemeinden der Schweizer Alpen. Quelle: MAURER et al. 2006.
2.4.8 Vielfalt auf Lebensraumebene
Ein ausschlaggebender Faktor für die Biodiversität im Wiesland ist auch die Vielfalt und Verteilung unterschiedlicher Wiesentypen (Abb. 22). Je nach Standort und Bewirtschaftung entwickeln sich andere Wiesentypen, die je ihre unterschiedliche, charakteristische Flora und Fauna aufweisen (Kap. 5). Die Schweiz beherbergt im internationalen Vergleich eine ausgesprochen grosse Vielfalt verschiedener Wiesentypen, von denen einige zu den weltweit artenreichsten gehören (PFADENHAUER und KLÖTZLI 2014; eigene unveröff. Aufnahmen). Die Vielfalt der Wiesentypen hat über viele Jahrhunderte aufgrund der Kleinstrukturierung der Kulturlandschaft mosaikartig vielfältig gewechselt. Durch die Vergrösserung der Schläge, die Drainierung und Meliorierung immer grösserer Teile des Wieslandes und der damit einhergehenden Uniformierung der Standortbedingungen, aber auch durch die Vereinheitlichung der Bewirtschaftung, hat sich diese sogenannte Beta-Diversität in den vergangenen Jahrzehnten stark reduziert (vgl. Kap. 6.8.3).
2.4.9 Einfluss der Fragmentierung auf die Biodiversität
Fragmentierung bezeichnet in ökologischer Hinsicht eine Entwicklung, bei der die Grösse eines zusammenhängenden Lebensraums abnimmt und gleichzeitig dessen räumliche (Distanz zum nächsten ähnlichen Lebensraum) oder funktionale Isolation (z. B. durch Barrieren wie Autobahnen) zunimmt. Dadurch entstehen «Inseln», zwischen denen sich die Populationen von Tieren und Pflanzen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr genetisch austauschen können. Die Auswirkungen der Fragmentierung können zu lokalem Aussterben von Arten führen (FISCHER und STÖCKLIN 1997), weil auf kleinen, isolierten Flächen die Wahrscheinlichkeit, dass Arten aussterben, höher ist als auf grösseren, vernetzten Flächen. Denn kleine Flächen beherbergen kleinere Populationen. Je kleiner diese sind, desto eher ist ein Aussterben infolge eines Extremereignisses möglich. Wenn zugleich die Isolation zunimmt, können lokal ausgestorbene Arten nicht oder nur noch erschwert aus noch bevölkerten Lebensräumen der Umgebung wieder besiedelt werden (BULLOCK 2011). Zudem sind kleine, isolierte Populationen genetisch oft deutlich weniger divers und dadurch von geringerer Vitalität (KERY et al. 2001; HENSEN und WESCHE 2006).
Kleine Wieslandflächen sind zudem oft besonders empfindlich gegenüber negativen Randeffekten (z. B. Eindringen anderer Arten oder Nährstoffeintrag aus benachbarten intensiv genutzten Parzellen). Wenn die Distanzen dazwischen grösser sind als die Ausbreitungsdistanzen der Arten, ist eine Wiederbesiedlung ohne unterstützende Massnahmen unwahrscheinlich (BOSSHARD 1999).
Die verbliebenen Bestände von artenreichen Wiesen wie Trockenwiesen und -weiden (TWW-Inventar) oder Fromentalwiesen (Kap. 7) sind heute oft nur noch sehr klein und isoliert. 1900 gab es