Unterrichtssituationen meistern. Regula Kyburz-Graber

Unterrichtssituationen meistern - Regula Kyburz-Graber


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Gutachten, Zeitungsartikel, Leserbriefe, Pläne, historische Dokumente, Bilder. Interessant an der Fallstudienarbeit ist die Auseinandersetzung mit der Komplexität der realen Situation. Eine didaktische Reduktion dieser Komplexität würde dem Prinzip der Konfrontation mit der Alltagsrealität zuwiderlaufen. Dies trifft auch für die gesuchten Lösungen zu: Es wird selten eindeutige Lösungen geben, die Lernenden haben Vor- und Nachteile abzuwägen und sich schließlich für eine Lösung zu entscheiden, im Bewusstsein darum, dass der aktuelle Wissensstand immer vorläufig und mit Fehleinschätzungen behaftet sein kann. Bei der Auswertung der Ergebnisse hat die Lehrperson die Aufgabe, grundsätzliche Kenntnisse, die mit der Fallbearbeitung erworben wurden, bewusst zu machen.

      Beispiele für Fallstudien finden sich unter http://sciencecases.lib.buffalo.edu/cs/ und http://alt.sowi-online.de/methoden/dokumente/weitzfall.htm.

      Fallstudien in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen

      In der Aus- und Weiterbildung werden Fallstudien als didaktische Methode eingesetzt. In der konkreten Anwendung lehnen sie sich aber an die Fallstudien als Forschungsansatz an. Als didaktische Methode in der Bildung von Lehrpersonen werden sie von Bastian und Helsper (2000) so begründet:

       Für die Förderung der individuellen Professionalität bedarf es der Stärkung zweier Wissenstypen: Neben dem bislang eindeutig dominierenden Fachwissen, dem bislang eher drittrangigen erziehungswissenschaftlichen Theoriewissen und dem sich zumeist unter beruflichen Sozialisations- und Initiationszwängen weitgehend naturwüchsig aufschichtenden methodischen und didaktischen Handlungs- und Erfahrungswissen bedürfen Lehrerinnen und Lehrer vor allem eines kasuistischen, reflexiven Fallwissens, das mit Theoriewissen vermittelt ist, sowie eines (berufs)biographisch selbstreflexiven, selbstbezüglichen Wissens. (Bastian und Helsper 2000, 182)

      In der Fallbearbeitung sehen Bastian und Helsper die Möglichkeit, erfahrungsnahes Praxiswissen mit theoretischem Erklärungswissen zu verbinden. Auch in anderen grundlegenden Studien zur Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen wird die Fallarbeit als wichtige methodische Arbeitsweise benannt. So werden im Bericht «Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften», beruhend auf dem Bericht einer Arbeitsgruppe (Terhart et al. 2002, KMK 2004a), unter den didaktisch-methodischen Ansätzen für die Vermittlung bildungswissenschaftlicher Inhalte folgende als relevant erachteten Aspekte genannt: «Situationsansatz, Fallorientierung, Problemlösestrategien, Projektorganisation des Lernens, biographisch-reflexive Ansätze, Kontextorientierung, Phänomenorientierung» ([KMK] Kultusministerkonferenz 2004b). Im Beschluss von 2014 wurde die Liste ergänzt mit Praxisorientierung und Forschungsorientierung (KMK 2014). Situationsansatz, Fall- und Praxisorientierung, Problemlösestrategien, Kontextorientierung und Phänomenorientierung sind methodische Prinzipien, die alle in der Fallstudienarbeit zum Zuge kommen. In der Studie zu Standards in der Lehrerbildung postulieren Oser und Oelkers als optimale Verarbeitungstiefe von Ausbildungsinhalten eine systematische Verknüpfung von Wissen, Handeln und Reflektieren, indem die angehenden Lehrpersonen theoretisches Wissen erwerben, Übungen durchführen und Praxissituationen reflektieren (Oser 1997; Oser und Oelkers 2001). Eine solche Verknüpfung lässt sich unter anderem durch Fallstudienarbeit erreichen.

      Vorgehen bei der Fallstudienarbeit

      Fallstudienarbeit gehört zum Ausbildungskonzept der Universität Zürich für zukünftige Lehrpersonen an Maturitätsschulen. Die Autorin hat als Lehrstuhlinhaberin für Gymnasialpädagogik zusammen mit dem Autor über viele Jahre das Pflichtmodul für Diplomstudierende angeboten. Anders als bei der Fallstudienarbeit im Schulunterricht lehnen wir uns dabei an eine elaborierte, einem Forschungsverfahren ähnliche Vorgehensweise an. Dennoch soll mit der Fallstudienarbeit nicht der Anspruch erhoben werden, dass die angehenden Lehrpersonen durch die Fallstudien befähigt würden, Fallstudien als Forschungsmethodik anzuwenden. Ziel ist der Erwerb von theoretisch fundiertem Fallwissen durch die genaue Analyse von Unterrichtssituationen, welche die Studierenden aus ihrer Praxis einbringen. Der Umfang und die Tiefe der Analyse soll angehenden und neu im Beruf stehenden Lehrpersonen einen guten Einblick in lösungsorientiertes Bearbeiten von Praxisproblemen geben. Eine Fallanalyse als Forschungsstudie würde deutlich darüber hinausgehen (vgl. z. B. Kyburz-Graber 2016).

      Die Studierenden, die sich für die Fallstudienarbeit als obligatorisches Modul einschreiben, haben alle anderen Ausbildungsmodule weitgehend abgeschlossen und bereits einige Erfahrungen mit Unterrichten gesammelt. Sie haben ein großes Praktikum in einem Gymnasium absolviert, manche von ihnen unterrichten auch bereits einige Lektionen pro Woche als Lehrbeauftragte an einer Schule. Alle Studierenden schreiben ein eigenes Fallbeispiel, dessen Länge durch ein Formular vorgegeben ist. Die Fallbeschreibung soll prägnant, klar, aussagekräftig und authentisch sein und keine Aussagen zu möglichen Lösungsansätzen machen. Der Fall soll schließlich mit einem treffenden Titel versehen werden.

      Alle Fallbeschreibungen, die in diesem Buch vorkommen, stammen original von Studierenden. Wir verzichten darauf, in ihren Texten Korrekturen anzubringen, um die Originalität nicht zu beeinträchtigen. Aus dem Text geht teilweise hervor, ob es sich um eine Lehrerin oder einen Lehrer handelt. In der Analyse verwenden wir jedoch generell die Bezeichnung Lehrperson.

      Die Vorgehensweise bei der Analyse vollzieht sich in den Kursen auf die Weise, wie wir sie in den 20 Fallanalysen präsentieren:

      1.Was fällt auf? Das Fallbeispiel wird in diesem ersten Schritt beschreibend erfasst, nahe am Originaltext, jedoch paraphrasierend, mit Zitaten aus dem Text in Anführungszeichen, auffallende Formulierungen hervorhebend, möglichst nicht interpretierend. Dennoch finden sich in diesem ersten deskriptiven Schritt ab und zu Andeutungen von Interpretationen, die später in der vertiefenden Analyse wieder aufgegriffen werden.

      2.Was ist das Problem? In diesem zweiten Schritt unternehmen wir den Versuch, auf der Basis der vorausgehenden Deskription, das zentrale Problem zu identifizieren. Es geht hier darum, das Problem zu verstehen. Die Problemformulierung sollte für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar sein. Selbstredend gäbe es aufgrund der Fallbeschreibung mehrere Probleme zu formulieren, zum Beispiel auch aus der Perspektive von Lernenden oder weiteren in den Fall involvierten Personen. Wir identifizieren jeweils das als Problem, was aus der Sicht der jungen Lehrperson am dringlichsten erscheint, oftmals auch unter Einbezug der Befindlichkeit, die aus ihren Sätzen spricht.

      3.Erklärungsansätze und Hintergründe Im dritten Schritt beleuchten wir verschiedene Aspekte der Problemsituation aus theoretischer Sicht, jedoch immer unter Bezug zum konkreten Fall. Es geht hier im Gegensatz zum ersten und zweiten Schritt darum, das geschilderte Geschehen zu erklären. Dieser dritte Schritt ließe sich beliebig ausbauen. Wir müssen allerdings berücksichtigen, dass wir mit dem Fallbeispiel einzig die Perspektive der betreffenden Lehrperson kennen. Einiges muss spekulativ bleiben. Wir beschränken uns in der Analyse auf das, was die Studierenden in den Kursen wichtig und besonders interessant fanden. Erst durch die genaueren Erklärungsversuche traten manchmal unerwartete Aspekte auf, mit denen die Fallanalyse theoretisch angereichert werden konnte.

      4.Lösungsansätze Im vierten und letzten Schritt stellen wir Lösungsansätze dar, die sich sozusagen als Früchte aus den bisherigen Schritten, vor allem aber aus Schritt 3, ergeben. Bewusst sprechen wir hier von Lösungsansätzen, erstens weil es nicht die Lösung, sondern immer mehrere Möglichkeiten gibt und zweitens weil es sich nicht um fertige Lösungen handelt, die sich in der Praxis überprüfen lassen, sondern um Ansätze, die im konkreten Kontext weiterzuentwickeln oder anzupassen sind. Aufgrund der Schritte 1 bis 3 sollten die Lösungsansätze nachvollziehbar und plausibel sein, zugleich auch so konkret, dass weniger erfahrene Lehrpersonen daraus Vorgehensweisen für den eigenen Unterricht ableiten können.

      Wir hoffen, dass wir mit dem standardisierten Vorgehen Lehrpersonen anregen


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