Unterrichtssituationen meistern. Regula Kyburz-Graber
Schüler aufgrund von verschiedenen Herkunftsschulen unterschiedliche Vorkenntnisse im Fach Englisch mitbringen. Zudem sind sie unterschiedlich vertraut mit dem «System» der Schule. Diese Situation führt bei den einen Jugendlichen zu Überforderung, bei den anderen zu Unterforderung. Die Lehrperson selbst lässt in der Beschreibung der Situation erahnen, dass sie stark überfordert ist, versucht sie doch vor allem mit individuellen Beratungen am Rand der Lektionen möglichst vielen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Unterforderung der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die zu Unruhen während des Unterrichts beiträgt, belastet die Unterrichtsstunden. Dies führt zum bedeutsamen Problem, dass die Lehrperson es als unmöglich erachtet, einen «normalen» Unterricht umsetzen zu können.
Das zentrale Problem des Fallbeispiels kann daher mit folgenden Fragen umrissen werden:
–Wie kann die Lehrperson eine leistungsmäßig heterogene Klasse (während der Probezeit) so unterrichten, dass sie den Bedürfnissen aller Lernenden gerecht werden kann?
–Wie kann die Lehrperson vermeiden, sich selbst dabei zu überfordern?
Erklärungsansätze und Hintergründe
Probezeit
Die Lehrperson schreibt im Fallbeispiel, dass der Probezeitunterricht entsprechend den Richtlinien sehr intensiv ist und die Schülerinnen und Schüler gefordert bzw. teilweise überfordert sind.
Angesichts des großen Stoffdrucks neigen Lehrpersonen dazu, den Unterricht an einem fixen Programm auszurichten. Dadurch möchten sie gewährleisten, dass sie die Fülle an Inhalten in der vorgegebenen (Probe-)Zeit vermitteln können und somit die Grundlage für begründete Beurteilungen geschaffen wird. Sie verzichten dabei eher auf vielfältige Methoden und vergeben damit die Möglichkeit, auf unterschiedliche Leistungsvoraussetzungen eingehen zu können.
Die Lernenden selbst sind mit einer großen Menge von unbekanntem, zu verarbeitendem Stoff konfrontiert: Erstmals fahren viele Schülerinnen und Schüler mit dem Zug zur Schule, essen am Mittag auswärts, kommen in eine neue Klasse mit unbekannten Gesichtern und haben für jedes Fach andere Lehrpersonen mit verschiedenen Grundsätzen und Eigenheiten, die es zu erkennen und zu berücksichtigen gilt. Die Probezeit weist daher mehr Anforderungen auf als ‹bloßes› Lernen von Fachinhalten und das Bestehen von Prüfungen.
Heterogenität und ihre Ursachen
Die Lehrperson schreibt im Fallbeispiel, dass das Problem in der Heterogenität der Klassen liegt.
Heterogenität im pädagogischen Sinne beschreibt die lernrelevante Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler. Diese Unterschiedlichkeit kann sich im Geschlecht, der Familienstruktur, unterschiedlicher sozialer, religiöser und kultureller Herkunft, der Bildungsnähe des Elternhauses oder der Sprache ausdrücken.
In der Primarschule und der Sekundarstufe I ist Heterogenität die alltägliche Herausforderung für Lehrpersonen. Bezüglich der kulturellen Heterogenität führt das Bundesamt für Statistik seit 1990 eine Statistik, die aufzeigt, dass insgesamt gesehen die kulturelle Heterogenität der Klassen in der obligatorischen Schule zugenommen hat, wenn auch nicht auf allen Bildungsstufen bzw. in allen Schultypen im gleichen Ausmaß (siehe Homepage des Bundesamts für Statistik; Bildungssystemindikatoren).
Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, wie auch die Lehrperson im Fallbeispiel, gehen noch oft von einer Homogenität der Lernenden aus. Die Schülerinnen und Schüler bringen jedoch auch auf der Sekundarstufe II stets individuell unterschiedliche Voraussetzungen mit und haben verschiedenartigen Lernbedarf. Auf kognitive Aspekte bezogen bedeutet dies, dass sich die Heterogenität in vier unterschiedlichen und lernrelevanten Bereichen ausdrücken kann: (1) Wissensbasis, (2) Intelligenz, (3) Motivation und (4) Metakognition (Rossbach und Wellenreuther 2002). Auch die Lehrperson nennt im Fallbeispiel Gründe für die heterogenen Leistungsvoraussetzungen: unterschiedliche Vorbildungen in Primar- und Sekundarschulen oder in den ersten Klassen des Langzeitgymnasiums; neu zusammengesetzte Klassen in bestimmten Fächern; außerschulisch erworbene Fähigkeiten usw. Diese unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen beziehen sich v. a. auf die Wissensbasis und sind insbesondere in den Sprachfächern bekannt, weil Schülerinnen und Schüler unterschiedlich lange Vorbereitungszeiten mitbringen. Zudem gibt es immer mehr Jugendliche, die eine andere europäische Muttersprache als Deutsch (z. B. Englisch) haben und damit Vorteile im Sprachunterricht genießen.
Ein gutes Klassenklima und Motivation als optimale Voraussetzungen
Die Lehrperson schreibt, dass das Klima in diesen Klassen sehr gut ist, dass die Schülerinnen und Schüler einander unterstützen und generell sehr motiviert und lernbegeistert sind. Somit zeichnen sich die Klassen nicht nur durch Heterogenität bezogen auf die Wissensbasis aus, sondern auch durch Homogenität hinsichtlich der Motivation und des ‹Teamgeistes›. Die Homogenität bezogen auf die Motivation und das Klassenklima bietet ideale Voraussetzungen, einen für alle Beteiligten gewinnbringenden Unterricht zu gestalten. Dabei muss aber die Heterogenität (mindestens bezogen auf die Wissensbasis) der Klasse berücksichtigt werden: Aufgabe der Lehrperson als Pädagogin ist es, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Neigungen, Fähigkeiten, Stärken und Schwächen idealerweise gleichermaßen anzusprechen und in den Unterricht einzubinden. Dies setzt ein vielfältiges und flexibel variierbares Methodenrepertoire voraus, welches die Klasse als Ganzes wie auch die Leistungsgruppen und die Lernenden als Individuen anspricht und fördert.
Wie geht die Lehrperson mit Heterogenität um?
Die Lehrperson schildert, dass die zusätzliche und individuelle Unterstützung für die schwächeren Schülerinnen und Schüler zu einem aufwendigen Einzelcoaching außerhalb des regulären Unterrichts «mutiert», welches auf Dauer nicht aufrechterhalten werden kann. Inwiefern die Lehrperson individualisierende Methoden (siehe Lösungsansätze) im Unterricht selbst einsetzt, um die Heterogenität (zumindest stellenweise) aufzufangen, kann aufgrund der Fallbeschreibung nicht festgestellt werden.
Die Lehrperson schreibt, dass sie die schwachen Lernenden zusätzlich unterstützt, hingegen die leistungsstarken/muttersprachlichen Lernenden nicht entsprechend fördern kann. «Dies führt oft zu Unruhen», schreibt die Lehrperson. Keinesfalls darf es sein, dass die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler nicht entsprechend ihrer Fähigkeiten unterrichtet werden und das Augenmerk ausschließlich auf Leistungsschwächere gerichtet wird. Sowohl leistungsstarke als auch leistungsschwache Lernende haben ein Anrecht darauf, entsprechend ihren Voraussetzungen innerhalb des Unterrichts gefördert zu werden (individualisierender Unterricht; siehe Lösungsansätze).
Auch ‹Native Speakers›, welche durch ihren flüssigen, korrekten und wohlklingenden Sprachausdruck beeindrucken, müssen entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert werden. Oftmals täuscht die Beherrschung der mündlichen Sprache darüber hinweg, dass andere Lernziele – wie z. B. die Sicherheit im schriftlichen Ausdruck oder das Literaturverständnis – nicht gleichermaßen entwickelt sind und dort durchaus Lernbedarf besteht, der auch dementsprechend gefördert werden soll.
Lösungsansätze
Transparenz und respektvoller Umgang als grundlegende Prinzipien
Die Klasse muss darüber informiert werden, dass unterschiedliche Voraussetzungen vorhanden sind und entsprechend auch Lehr- und Lernformen angewendet werden, die diesen Bedingungen besser gerecht werden. Wichtig als Prinzip ist hierbei, dass weder schwächere noch stärkere Schülerinnen und Schüler für die anderen ein Grund für Unruhe, Gelächter usw. sein dürfen. Es gilt gegenseitiger Respekt. Darauf muss die Lehrperson bestehen.
Wichtig für die Lehrperson ist es zu wissen, dass sie nie wirklich allen gerecht werden kann. Aber sie kann gegenüber den Lernenden deutlich machen, was sie sich überlegt hat, damit möglichst viele zum Zuge kommen. Feedbacks einholen ist dabei besonders wichtig (kurze Rückmeldephasen am Schluss der Stunde, mündlich oder schriftlich), sodass zusätzliche Vorschläge von Schülerinnen und Schülern einbezogen werden können. Das Einzelcoaching ist auf ein Minimum zu beschränken – Lernende können sich in Partner-Lernsituationen auch gut gegenseitig helfen.
Konkrete Maßnahmen im Umgang mit heterogenen Klassenzusammensetzungen
Wenn die Lehrperson auf Heterogenität