Schulsozialarbeit in der Schweiz (E-Book). Ueli Hostettler
Die Probleme können entweder innerschulisch bedingt sein (z.B. Absentismus) oder vom Schulumfeld (z.B. «ungünstige soziale und kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung in einem Quartier») ausgehen (2005, S. 42f.). Die am häufigsten in der Literatur genannten Themen sind Gewalt, Mobbing, Schulverweigerung oder -absentismus, überforderte Schulleitungen und Lehrpersonen (Baier, 2008; Drilling, 2009; Drilling, Müller, Fabian, 2006) sowie Verhaltensauffälligkeiten und psychosoziale Probleme bei Schülerinnen und Schülern (Baier, 2008; Neuenschwander et al., 2007).
Über die eigentlichen Nutzerinnen und Nutzer der Schulsozialarbeit ist sehr wenig bekannt. Manchmal werden Geschlecht und Migrationshintergrund erfasst: Drilling zeigt, dass sich die Beratungsinhalte/Problematiken nach Geschlecht unterscheiden. Mädchen werden öfter in Bezug auf ihre Gesundheit oder auf Gewalterfahrungen beraten, Jungen eher aufgrund ihres Verhaltens in der Schule (Drilling, 2009). Baier und Heeg stellen zudem fest, dass Mädchen die Schulsozialarbeit häufiger freiwillig aufsuchen, während Jungen eher von Lehrpersonen zur Schulsozialarbeit geschickt werden (Baier, Heeg, 2011, S. 28; Fabian, Müller, 2007). In Bezug auf die soziale Herkunft konnten Baier und Heeg (2011) keine spezifischen Unterschiede feststellen. Gemäss Fabian et al. (2008) sind ausländische Schülerinnen und Schüler hingegen übervertreten. Zum selben Ergebnis kommen auch Stohler et al. (2008).
Diese knappe Übersicht und Einschätzung des Forschungsstands der noch relativ jungen und wenig auf Grundlagenforschung ausgerichteten Forschungstradition zur Schulsozialarbeit lässt verschiedene Einschränkungen erkennen und verweist auf Forschungslücken für eine stärker vergleichende, grundlagenorientierte quantitative Forschung in mindestens vier Bereichen:
(1) Es existiert ein Verallgemeinerungsdefizit von schul- oder projektbezogenen, teilweise regionalen Implementations- und Evaluationsstudien. Da komparative, projektübergreifende Abbildungen realer Praxisformen weitgehend fehlen, bleiben die zahlreichen Einzelbefunde zu den Leistungen, Kooperationsformen, Nutzungen und zum Grad der Zielerreichung fragmentiert und kaum auf eine übergeordnete Fragestellung hin verwertbar. Zwar gibt es mittlerweile erste kantonale Bestandsaufnahmen (Drilling et al., 2006; Fabian, 2012; Neuenschwander et al., 2007; Pfiffner, Hofer, Iseli, 2013). Für die gesamte Schweiz liegt unseres Wissens nur eine einzige Bestandsaufnahme vor (Gschwind, 2014).
(2) Die mehrheitlich deskriptiv ausgerichtete und weniger hypothesenprüfende Evaluationsforschung weist auf ein Explikationsdefizit hin. So vermögen die vorwiegend pragmatisch ausgerichteten Untersuchungsdesigns keine theoretisch bedeutenden Wirkungszusammenhänge zu erklären. Insbesondere bleibt der Einfluss der Kontextbedingungen auf verschiedene Untersuchungsdimensionen (Angebot, Kooperation, Nutzung und Zielerreichung) weitgehend im Dunkeln, und das Interesse an den organisatorischen Rahmenbedingungen der Schulsozialarbeit (z.B. Fragen der Trägeranbindung, Organisation und Aufsicht) entwickelt sich in der Anfangsphase erst allmählich (Hollenstein, 2000).
(3) Nach Drilling und Fabian (2010) ist die Evaluationsforschung in der Schweiz primär auf die Wirkungen der psychosozialen Beratung auf die Zielgruppe ausgerichtet, was hauptsächlich Ergebnisse auf Einzelfallebene produziert. Grössere Einheiten wie Klassen oder die Organisationen (z.B. Schulen, Gemeinden) kommen dabei kaum in den Blick. In der Schweiz hat sich zudem bisher keine Studie mit dem Einfluss der Kooperationsformen auf Leistungserbringung und Nutzungsstrukturen beschäftigt.
(4) Die bestehende Forschung zu den Nutzerinnen und Nutzern der Schulsozialarbeit fokussiert entweder auf die subjektive Zufriedenheit verschiedener Zielgruppen mit dem Leistungsangebot der Schulsozialarbeit oder – in konzeptionell anspruchsvolleren qualitativen Forschungsarbeiten – auf die Rekonstruktion des individuellen Nutzens und die Analyse von Aneignungs- und Interaktionsprozessen in der Schulsozialarbeit (Oelerich, 2010; Schaarschuch, Oelerich, 2005). Weniger Wissen besteht dagegen zu den daraus resultierenden Nutzungsformen und -strukturen in den verschiedenen Angeboten und Schulen. Kaum systematisch erfasst werden beispielsweise die Lebensbedingungen, Problemlagen und Bedarfe der Kinder und Jugendlichen, die die Schulsozialarbeit nutzen. Damit bleibt auch weitgehend ungeklärt, welchen Einfluss die unterschiedlichen Lebenssituationen auf die Leistungspräferenzen und Nutzungsformen der Schülerinnen und Schüler haben. Zudem besteht vor dem Hintergrund dieser Forschungslücke Unsicherheit darüber, welche Kinder und Jugendlichen von der Schulsozialarbeit tatsächlich erreicht werden und wo allfällige Barrieren der Nutzung und des Nutzens bestehen. Schliesslich wird in der Praxis immer wieder auf die grosse Bedeutung des Vertrauens von Schülerinnen und Schülern in die Schulsozialarbeit hingewiesen. Trotzdem gibt es bisher nur wenige systematische Versuche zur Erfassung des Vertrauens und von dessen Voraussetzungen und Folgen für die Nutzung und den Nutzen von Schulsozialarbeit.
1.3 Bedeutung der interdisziplinären Kooperation
In den letzten Jahren zeichnen sich zumindest auf konzeptioneller Ebene Entwicklungen hin zu einer stärkeren Integration des Leistungsangebots der Kinder- und Jugendhilfe in die Schulen ab. Sie zielen darauf ab, dass die verschiedenen Beteiligten inner- und ausserhalb der Schule ihr Handeln besser aufeinander abstimmen und mit anderen Institutionen und Berufsgruppen kooperieren (Anderson-Butcher, Ashton, 2004; Darlington, Healy, Feeney, 2010; Higham, Yeomans, 2010; Olk, Speck, 2012, S. 356). Dabei nimmt die Schulsozialarbeit eine Schlüsselstellung an der Schnittstelle zwischen Schule und Jugendhilfe ein (Behr-Heintze, Lipski, 2005, S. 46), weil die beiden Sozialisationsinstanzen und Berufsgruppen an der Schule örtlich zusammenkommen und sich wechselseitig ergänzen (Vogel, 2006).
Die Forschung zur Zusammenarbeit – wir verwenden hier die Begriffe Kooperation und Zusammenarbeit als Synonyme – von Jugendhilfe und Schule zeigt, dass sich aufgrund der Gestaltungs- und Entscheidungskompetenz der Gemeinden im Praxisalltag eine grosse Bandbreite verschiedener Kooperationsformen und -modelle herausgebildet hat, die dem Anspruch auf gegenseitige Öffnung mehr oder weniger gerecht werden. In der Literatur wird vor allem auf die Kooperationsmodelle von Wulfers (1996) und deren Weiterentwicklung durch Seithe (1998) Bezug genommen (siehe Abbildung 1). Wulfers (1996) unterscheidet drei Kooperationsmodelle der Jugendhilfe und der Schule: Distanzmodell, Integrations-/Subordinationsmodell und Kooperationsmodell. Seithe (1998) hat die drei Kooperationsmodelle zusätzlich in je zwei Submodelle unterteilt. Das Distanzmodell unterteilt sie in ein «additiv-destruktives» und ein «additiv-konstruktives» Modell, das Integrations-/Subordinationsmodell in ein integratives «Hilfslehrer-Modell» und ein integratives Modell «sozialpädagogische Schule» und das Kooperationsmodell schliesslich in ein Modell «sporadische Kooperation» und ein Modell «konstruktive Kooperation». Im Folgenden werden die verschiedenen Modelle kurz erläutert.
Abbildung 1: Kooperationsmodelle nach Wulfers (1996) und Seithe (1998) (eigene Darstellung in Anlehnung an Wagner, Kletzl, 2013)
Im Distanzmodell agieren Schule und Schulsozialarbeit im Prinzip getrennt voneinander. Es findet keine Kooperation statt, und es sind nur wenige gegenseitige Kontaktaufnahmen zu verzeichnen. Die Schulsozialarbeit wird lediglich als Hilfssystem im System Schule toleriert. Dieses Modell fusst auf dem Verhältnis zwischen Jugendhilfe und Schule, wie es vor der Einführung der Schulsozialarbeit bestand, als sich Jugendhilfe und Schule klar getrennt entwickelten. Innerhalb des Distanzmodells können wegen der unterschiedlichen Ausprägungen der «Kooperation» ein «additiv-destruktives» Modell und ein «additiv-konstruktives» Modell identifiziert werden. Nach Drilling (2004) existieren beim additiv-destruktiven Submodell praktisch keine Berührungspunkte zwischen Schule und Jugendhilfe, die Beziehung ist von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Beim additiv-konstruktiven Modell bestehen zwar ebenfalls wenig Berührungspunkte, aber trotz fehlender Kooperation anerkennen sich die Professionen gegenseitig. Zu den Vorteilen des Distanzmodells zählt, dass beide Handlungsfelder einen hohen Grad an Autonomie beibehalten können (Drilling, 2004). Seithe (1998) dagegen sieht es als Nachteil, dass die Schule aufgrund der Nichtkooperation gewisse schulische Probleme nicht oder nicht befriedigend behandelt und dass die Möglichkeit zur Fallarbeit durch die Schulsozialarbeit nicht genügend genutzt werden kann.
Im Integrations- und Subordinationsmodell ist die Schulsozialarbeit häufig der Schule oder der Schulverwaltung unterstellt. Da die Schulsozialarbeit ein Bestandteil des Systems Schule ist, bestehen eine hohe Kontaktdichte und ausgeprägte