Dürnsteiner Würfelspiel. Bernhard Görg

Dürnsteiner Würfelspiel - Bernhard Görg


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an einem besonders warmen Tag sogar schon einmal einen Allergieanfall erlebt – wegen der vielen Pflanzen und Gräser, die hier wuchsen. Bevor er hierherkam, hatte er immer geglaubt, dass es auf einem Friedhof nur Schnittblumen gab. Jetzt wusste er es besser. Pollenallergie war eine der lästigen Leiden, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten.

      Zum anderen wäre er als Friedhofsbesucher an einem Allerseelentag nie aufgefallen. Nicht dass er sich deswegen große Sorgen machen musste. Warum sollte ein Mann nicht an einem Grab trauern dürfen? Oder zumindest so tun. Er hatte stets genau darauf geachtet, die vielen Frauen, die ihm meistens mit einer Gießkanne in der Linken und einer Forke in der Rechten entgegenkamen, im Unklaren darüber zu lassen, welches Grab Ziel seiner Visite war. Es war ihm erst im Laufe der Jahre bewusst geworden, dass Friedhofsbesuch und Grabpflege eine reine Frauensache war. Er war also selbst auf dem Friedhof ein Außenseiter. Von der Wiege bis zur Bahre. Um ein Haar hätte er geschmunzelt.

      Das Verheimlichen seines Ziels fiel ihm leicht. Fast ein Kinderspiel. Da er nie wirklich trauerte, konnte er sich vor dem Grab darauf konzentrieren, die Umgebung zu beobachten. Sobald jemand in seine Nähe kam, wurde aus der Salzsäule, die vor einem Grab stand und in tiefe Trauer versunken schien, ein langsam dahin schlendernder Flaneur mit einem Faible für Friedhofsatmosphäre. Er hatte einmal davon gelesen, dass ein solches Faible ein Hinweis auf einen nekrophilen Charakter war. Dabei hatte er tatsächlich schmunzeln müssen. Er hatte sich einmal beim Schmunzeln vor dem Spiegel beobachtet. Er war allerdings nicht selbstverliebt genug, um sich dabei sympathisch vorzukommen.

      Jetzt war niemand zu sehen. Seit acht Jahren beherbergte das Nachbargrab zur Linken einen Kommerzialrat Ing. Romeo Nowak, wie man auf dem Grabstein lesen konnte. Dafür waren dort weder ein Geburts- noch ein Sterbedatum zu finden. Alles bestand aus grauem Marmor. Ausgestattet mit zwei pompösen Bronzeleuchtern links und rechts.

      Hinter dem Grabstein befand sich eine dichte Hecke aus Buchsbaum. Wahrscheinlich, um es gegen die bröckelnde Friedhofsmauer optisch abzuschirmen. Alles stank hier nach Geld. Heute musste er sich einmal mehr fragen, wie Eltern mit dem Namen Nowak nur so grausam sein konnten, ihren Sohn Romeo zu nennen. Schon von Geburt an mit einer Belastung geboren. Damit kannte er sich aus. Interessant, dass der Vorname auf dem Grabstein ausgeschrieben war. Es hätte immerhin auch R. Nowak gereicht. Vielleicht war dieser Herr sogar stolz auf seinen Vornamen gewesen. So wie auf seine Titel. War wahrscheinlich zu seinen Lebzeiten ein unguter Zeitgenosse gewesen.

      Auf der anderen Seite des einzigen Grabes, das ihn hier wirklich interessierte, gab es eines, das auf ihn wie ein Kontrastprogramm zur letzten Ruhestätte des Kommerzialrats wirkte. Die einzige Gemeinsamkeit der zwei Gräber waren die Titel. Die Leute wollten nicht ohne Titel in die Grube fallen.

      Der Grabstein bestand seiner Einschätzung nach aus Granit. Er war sehr schmalbrüstig und schon ziemlich verwittert, was kein Wunder war, da er seit fast siebzig Jahren an dieser Stelle stehen musste. Johann Töpfl. Amtsoberoffizial i.R. 8. VI. 1879 – 17. IX. 1951. Die goldfarbene Schrift war bereits teilweise abgeblättert, und das Grab selbst war mit Steinen verschiedenster Art eingefasst, die alle recht locker in der Erde steckten. Es sah fast aus wie ein Grab für arme Leute. In der Mitte lauter Vergissmeinnicht, die sogar er erkannte, obwohl er sich für Blumen überhaupt nicht interessierte. Das Erdreich war feucht, so als ob es erst kürzlich gegossen worden wäre. Wahrscheinlich von einer Tochter, die ihrem Vater wohl bald Gesellschaft leisten würde.

      Jedenfalls war ihm klar, dass er sich von diesem Apriltermin nie würde trennen können. 5. April. Der Geburtstag seines Peinigers. Heute musste er mit dem Vorabend vorliebnehmen. Trotz größter Bemühungen hatte er seine morgige Dienstreise nicht verschieben können. Doch das war gar nicht so schlimm. Seine Mutter hatte ihm, als er bereits längst von zuhause weg war, auch immer am Vorabend telefonisch zu seinem Geburtstag gratuliert. Sie wollte sicher sein, wie sie ihm einmal erklärt hatte, die erste Gratulantin zu sein. Ihr Grab besuchte er seltener als dieses hier. Er hatte wenig Grund, ihr und seinem Vater dankbar zu sein. In die guten Gene, die er von den Eltern mitbekommen hatte, hatten sich zu viele schlechte gemischt. Deshalb war er sein ganzes Leben lang ängstlich und feig gewesen und unsportlich dazu. Jedenfalls würde er heute die Manie seiner Mama übernehmen und schon am Vorabend des Geburtstags gratulieren. Oder zumindest an das Geburtstagskind denken.

      Seine Migräne war seit heute früh noch lästiger als sonst. Sie hatte eigenartigerweise bis jetzt nicht nachgelassen. Das war kein gutes Zeichen. Kommendes Ungemach hatte sich bei ihm immer mit einer besonders heftigen Attacke über seinem rechten Auge angekündigt. Schon seit Mittag war er dabei gewesen, sich den Kopf zu zerbrechen, aus welcher Ecke das Unheil wohl diesmal kommen konnte. Seine Überlegungen waren ohne greifbares Resultat geblieben.

      Auch jetzt dachte er angestrengt nach. Dabei hätte er fast die alte Frau übersehen, die nur mehr dreißig Meter von ihm entfernt war und sich mit einer randvollen graugrünen Gießkanne abmühte. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie ihm auch nur die geringste Beachtung schenkte. Trotz allem höchste Zeit, die Maske des interessierten Flaneurs aufzusetzen.

      5. April, 09:00 Uhr

      Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten das Erdreich rund um die Fundstelle des Skeletts auf einer Fläche von drei mal drei Metern bis zu einer Tiefe von eineinhalb Metern abgetragen und dabei sogar die Terrassenmauer wegen Einsturzgefahr abstützen müssen. Trotz sorgfältiger Untersuchung des Aushubs waren sie kaum auf etwas kriminaltechnisch Verwertbares gestoßen. Das überraschte Doris Lenhart nicht wirklich.

      Die Reste einer Wieselburger-Bierflasche, an der sich einer der Beamten geschnitten hatte, und eine leere Kondompackung, die ein junger Kollege aufgrund der Verpackung auf ein Maximalalter von fünf Jahren schätzte, waren die ganze Ausbeute gewesen. Selbst wenn die Packung älter gewesen wäre, hätte sie ihnen nicht weitergeholfen. Sonst noch zwei rostige Nägel und mehrere Knochen eines kleinen Tieres.

      Sie hatte einige Zeit überlegt, ob sie ihren Chef gleich informieren sollte. Sie entschied sich schließlich dafür, weil sie an einer Eskalation der Spannungen kein Interesse hatte. Deeskalation war auch der Rat ihres Manns gewesen, mit dem sie das höchst eigenartige Verhalten des neuen Polizeidirektors am Vorabend diskutiert hatte.

      Als sie ihn anrief, um ihm das Ergebnis der Untersuchung durch die Spurensicherung mitzuteilen, war sie zunächst überrascht, dass er sich ausgesucht liebenswürdig für die Information bedankte. Geradezu verblüfft war sie allerdings von seiner Erklärung, morgen zum Thema »Skelettfund« eine Pressekonferenz machen zu wollen.

      Ihren Einwand, dass es bis jetzt nicht den geringsten Hinweis auf ein Verbrechen gab, wischte er beiseite. Er wollte auch noch gar nicht von einem Mord sprechen, sondern den Fund dazu benutzen, die Bevölkerung zu aktiver Mitarbeit zu motivieren.

      Die Sache war ein geradezu idealer Anlass, den mündigen Bürgern Niederösterreichs Gelegenheit zu bieten, ihre Zivilcourage unter Beweis zu stellen. Vielleicht ersparte sich die Kriminalpolizei dadurch sogar eine mühevolle Durchforstung aller Vermisstenmeldungen. Marbolt hielt es für völlig ausgeschlossen, dass eine ältere Frau verschwand, ohne dass es einer Nachbarin oder Freundin aufgefallen wäre. Auch wenn die Sache fünfzehn Jahre oder länger zurücklag. Natürlich würden sich bei seinem Aufruf zu couragierter Mitarbeit auch viele lästige Wichtigmacher melden, aber er wusste sich da mit dem Minister eines Sinnes, dass die Polizeibehörden diesen Preis zu zahlen hatten. Dann fügte er mit honigsüßer Stimme hinzu, dass er ihrem Einwand Rechnung tragen und sie daher bei der Pressekonferenz nicht dabeihaben wollte. Von einer Morduntersuchung konnte man, wie Doris selbst gesagt hatte, immerhin noch keinesfalls sprechen.

      Mit dem Wunsch nach einem schönen Tag verabschiedete sich Wolfgang Marbolt, und Doris rannte aus ihrem Zimmer. Sie war nicht wütend, weil der Chef sie bei der Pressekonferenz übergangen hatte. Die konnte ohnehin nur ein Desaster werden. Nein, sie war vielmehr amüsiert von seinem eitlen Geltungsdrang und seinem liebesdienerischen Eifer, dem Minister nach dem Mund zu reden. Dieses Amusement wollte sie gleich mit ihrem Stellvertreter teilen.

      Als sie bei seinem Büro ankam, stand die Tür offen. Was sie sah, schockte sie, obwohl sie von ihm einiges gewohnt war. Er saß auf seinem Sessel, blickte gedankenverloren in die Gegend und bohrte gleichzeitig mit seinem rechten Zeigefinger in seinem Nabel herum.


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