Dürnsteiner Würfelspiel. Bernhard Görg

Dürnsteiner Würfelspiel - Bernhard Görg


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Wolfgang Marbolt lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Aber vielleicht hat die Leiterin meiner Abteilung ›Leib und Leben‹ trotzdem die Güte, mich über das Skelett zu informieren.«

      Doris hatte in dem Moment das Gefühl, zumindest einen kleinen Sieg davongetragen zu haben. Ihre Freude darüber hielt sich allerdings in Grenzen. Marbolt war besser informiert, als sie ihm zugetraut hatte. In Zukunft musste sie noch vorsichtiger sein.

      4. April, 09:50 Uhr

      Die Schmidgasse galt nicht gerade als hervorragende Einkaufsstraße. Dazu war die Besucherfrequenz auf den knapp hundertfünfzig Metern zwischen Körnermarkt und Oberer Landstraße einfach zu gering – auch wenn das Steinertor gleich ums Eck stand. Dennoch hatte Hilde Dahlmeyer keine Sekunde gezögert, dort in einem nur dreißig Quadratmeter großen Lokal eine Boutique zu eröffnen.

      Das Lokal übernahm sie von ihrer Mutter, die dort vierzig lange Jahre Wachauer Goldhauben gestickt und ausgebessert hatte, bevor sie eine schwere Arthritis dazu zwang, ihren geliebten Beruf aufzugeben. Die letzten fünfzehn dieser vierzig Jahre war die Stickerei ohnehin nur mehr reine Liebhaberei und ein Verlustgeschäft gewesen, weil die Hochzeiten der Wachauer Trachten und der dazugehörigen Hauben längst vorbei waren. Einzig dem Starrsinn ihrer Mutter war es zu verdanken, dass es diese Goldhauben noch immer gab. Hildes Mutter stand zu ihren Überzeugungen, wie falsch sie auch immer sein mochten.

      Hilde stand der Sinn nicht mehr nach Goldhauben, seit sie diese als junges Mädchen ihrer Mutter zuliebe bei diversen Dirndlmodeschauen vorgeführt hatte. Natürlich unter größtem Applaus. Sie wäre bei diesen Gelegenheiten lieber im Bikini über den Laufsteg geschritten. Bis heute war sie davon überzeugt, dass sie damit orkanartige Begeisterungsstürme hervorgerufen hätte.

      In ihrem Taufschein stand nicht Hilde, sondern Kriemhild. Damit hatte sie es aber noch besser getroffen als ihr vor einigen Jahren tödlich verunglückter Bruder, der den germanischen Edelnamen Giselher trug. Kein Wunder bei ihrer Mutter, die 1934 als Brunhilde Kaltenegger geboren worden war.

      Hilde Dahlmeyer schämte sich ihres Vornamens nicht. Dazu liebte sie ihre Mutter zu sehr. Die hatte ohnehin nie viel Glück im Leben gehabt. Der Vater der kleinen Brunhilde war einst einer der ersten Kremser gewesen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen waren, und hatte so seine Frau als ganz junge Witwe mit zwei Kindern zurückgelassen. Als späterer Ehefrau war es ihrer Mutter nicht viel besser gegangen. Ihr neuer Ehemann war nicht wie ihr Vater in Polen geblieben, der hatte es nur bis nach Fürstenfeld geschafft. Er war von einer Dienstreise in die Steiermark wegen einer jüngeren Frau nicht mehr zurückgekehrt. Hilde und ihr Bruder hatten ihren Vater nie mehr wiedergesehen.

      Auch wenn die Lage der Boutique alles andere als ideal war, brauchte sie ihren Entschluss geschäftlich nie zu bereuen. Es gab in Krems natürlich auch andere, durchaus herzeigbare Modegeschäfte, aber Frau Dahlmeyer war mit ihren jetzt vierundvierzig Jahren eine stadtbekannte Person, was den Nachteil der Lage mehr als wettmachte. Zu dieser Bekanntheit verhalf ihr ihre attraktive Erscheinung, die von einem makellos jung wirkenden Gesicht gekrönt wurde, auf dem ihr sehr intensives Leben nicht die geringsten Spuren hinterlassen hatte. Zur Bekanntheit trug aber mindestens ebenso sehr der Umstand bei, dass sie über Empfehlung ihrer Mutter bei der letzten Gemeinderatswahl für die FPÖ kandidiert und gleich die meisten Vorzugsstimmen unter den Kandidaten aller wahlwerbenden Gruppen erhalten hatte. Es gab sogar schon ein Angebot, die Partei als Spitzenkandidatin in die nächste Wahl zu führen. Aber davor scheute sie sich. Sie wusste selbst, dass sie sich im Grunde genommen für Politik gar nicht interessierte. Das war aber nicht der Hauptgrund für ihr Zögern. Obwohl sie ein sehr kontaktfreudiger Mensch war, hatte sie einfach wenig Lust, sich Abend für Abend auf Veranstaltungen, die sie anödeten, herumzutreiben und auf Dinge zu verzichten, die ihr wirklich wichtig waren.

      Außerdem war ihr klar, dass für die erfolgreiche Vorzugsstimmenkampagne außer ihren Kundinnen, von denen sich die meisten neben ihrem entsprechenden finanziellen Background auch durch überdurchschnittlich hohes Selbstbewusstsein auszeichneten, vor allem ihre männlichen Fans verantwortlich waren. Das alleine würde aber für eine erfolgreiche Spitzenkandidatur nicht reichen.

      Auch wenn sie wenig Freude mit ihrem offiziellen Vornamen hatte, wusste sie, dass sie mit ihren weizenblonden Haaren der Namensgeberin aus der Nibelungensage optisch alle Ehre machte. So sehr, dass ihr in der zweiten Klasse der Handelsakademie eine Klassenkameradin unter großem Hallo der ganzen Klasse den Vorschlag gemacht hatte, sich unbedingt nur von einem Siegfried entjungfern zu lassen. Ein Siegfried war aber nicht bei der Hand gewesen, und so hatte drei Monate später ein Oliver diese Aufgabe übernommen. Sehr ideologiefest war sie ja im Unterschied zu ihrer Mutter nie gewesen.

      Die Boutique sollte laut dem Schild, das an der Innenseite der Eingangstür angebracht worden war, schon seit einer dreiviertel Stunde geöffnet haben. Doch Hilde Dahlmeyer hatte es nicht eilig, als sie von ihrer Wohnung am Dominikanerplatz, gleich neben dem Geburtshaus von Franz Liszts Mutter, in Richtung Schmidgasse ging.

      Es war ein Fußmarsch von drei Minuten. Als sie am Körnermarkt beim Haus »Zu den vier Jahreszeiten« vorbeikam, stand gerade eine Touristengruppe davor, die sich von einem Stadtführer die Einzelheiten der prachtvollen Rokokofassade erklären ließ. Die Boutiquenbesitzerin, die trotz eines langen Abends aussah, als hätte sie mindestens neun Stunden tief und unschuldig geschlafen, tat so, als würde sie die Blicke der männlichen Touristen, die sich wie auf Kommando von der mehr als zweihundertfünfzig Jahre alten Fassade ab- und ihr zuwandten, nicht bemerken. Sie übersah jedoch auch die Touristin in ausgelatschten Schuhen nicht, die ihrem Begleiter den Ellbogen heftig in die Seite stieß.

      Sie war derartige wortlose Komplimente gewohnt. Dennoch fand sie, dass der Rammstoß ihren Tag schon gerettet hatte, bevor er noch richtig beginnen konnte.

      4. April, 11:05 Uhr

      Gerhard Malzacher hatte beschlossen, das gefundene Skelett nicht mit besonderer Eile zu behandeln. Die Spurensicherung würde ohnehin mit ihrer gewohnten Mischung aus Schnelligkeit und Genauigkeit arbeiten, ohne dass er ihr im Nacken sitzen musste. Die Herrschaften würden nur bockig werden. Was den Arbeitseifer des Gerichtsmediziners anging, der von Wien nach Krems beordert worden war, und den er nicht persönlich kannte, war er da nicht so sicher. Aber auch das war für Spencer kein Problem. Wenn der sich Zeit lassen wollte, bitte sehr.

      Er telefonierte gerade mit dem Chef der Schiedsrichterbesetzungskommission der niederösterreichischen Fußballlandesliga. Bei dem wollte er seinen Wunsch deponieren, nicht gleich wieder als Spielebeobachter bei einem Match hoch im Norden an der tschechischen Grenze eingesetzt zu werden. Als er gerade seine Gründe erklären wollte, steckte einer seiner Mitarbeiter den Kopf zur Tür herein. Spencer, der sich bei dieser Art von Telefonaten besonders ungern unterbrechen ließ, bedeutete dem Mitarbeiter mit einer unmissverständlichen Geste, die Tür gefälligst wieder von außen zu schließen. Das lag nicht daran, dass er vor seinen Mitarbeitern den Inhalt dieser Gespräche geheim halten wollte. Im Gegenteil, die ganze Mordkommission wusste über das Wochenendhobby ihres stellvertretenden Chefs Bescheid. Sie wussten auch, dass er zur Vorbereitung seines Freizeitvergnügens die Dienstzeit und das Diensttelefon benützte. Aber der Chef der Schiedsrichterbesetzungskommission war ein vielbeschäftigter Mann, den man schwer ans Telefon bekam.

      Der Mann, der zu einem blitzartigen Rückzug aufgefordert wurde, schien dieses Zeichen entweder nicht bemerkt zu haben oder zu ignorieren. Er blieb nicht nur stehen, sondern bedeutete seinem Chef mit einer Auf- und Abwärtsbewegung der geschlossenen linken Hand, den Hörer aufzulegen. Diese Geste war ebenfalls unmissverständlich.

      Spencer entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner mit einem Notfall und versprach, später noch einmal anzurufen. Dann wandte er sich dem Störenfried zu. »Ich kann für dich nur hoffen, dass es wirklich wichtig ist. Sonst kannst du in deinem Heimatkaff wieder Streife schieben.«

      Malzacher grinste. »Dann wäre ich dich endlich als Chef los. Aber leider ist es wirklich dringend. Ich habe den Gerichtsmediziner am Apparat. Und er muss in spätestens drei Minuten weg.«

      »Warum sagst du mir das nicht gleich? Worauf wartest du noch? Dalli, Dalli. Aber wie der Blitz, wenn ich bitten darf.«

      Keine


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