Dürnsteiner Würfelspiel. Bernhard Görg
Sportlerin und, wie ich von meinen Kolleginnen und Kollegen weiß, eine fast perfekte Schülerin, sie hat auch einen sehr guten Charakter.«
Wie konnte man am Reck oder beim Schwimmen den Charakter eines Menschen feststellen?
»Das höre ich natürlich sehr gern, Frau Professor. Aber es macht mich neugierig, wie Sie zu dem Urteil über den Charakter meiner Tochter kommen.«
»Ich habe da eine sehr einfache Methode. Ich beobachte die Kinder beim Völkerball, das wird in der Unterstufe noch immer viel und gern gespielt. Dabei sehe ich drei Typen von Kindern. Die einen, die mit dem Ball auch dann auf ein Kind schießen, wenn es gestürzt ist. Das sind die mit einem Durchschnittscharakter. Dann die zweite Gruppe, die nicht nur auf ein gestürztes Kind schießt, sondern auch bewusst auf dessen Gesicht zielt. Diese Gruppe können Sie charakterlich vergessen. Und dann die dritte – leider die kleinste –, die nie auf ein gestürztes Kind schießen würde. Das sind die besonders anständigen Kinder. Und ihre Sophie zählt zu dieser Gruppe.«
Auch wenn ihm als gelernten Psychologen diese Klassifizierung etwas simpel schien, verstand er doch deren Logik. Jedenfalls freute er sich über das Lob über seine Jüngste. Die Professorin sah ihm offensichtlich die Freude an und beeilte sich hinzuzufügen: »Ist leider gar nicht auf meinen Mist gewachsen. Darauf hat mich als ganz junge Turnlehrerin ein erfahrener Kollege hingewiesen. Er hat seine Theorie vor fast vierzig Jahren an einem seiner Schüler entwickelt, der sich einen geradezu sadistischen Spaß daraus gemacht hat, seinen Kameraden ins Gesicht zu schießen. Mein Kollege hat damals gemeint, dass da ein potentieller Mörder heranwächst. Oder aber ein Mordopfer. Ich gebe aber zu, dass diese Schlussfolgerung selbst mir zu kühn gewesen ist.«
3. April, 19:15 Uhr
Auch am Piaristengymnasium Krems fand heute der Elternsprechtag statt – wie immer kurz vor Verteilung der Osterferien. Auch zu diesem Sprechtag war ein Vater unterwegs. Ein sehr besorgter. Bei diesem Vater handelte es sich um Doktor Christoph Ritzek, Primar der Chirurgischen Abteilung des Landesklinikums Krems.
Im Gegensatz zu Erich Lenhart, dem Personalchef aus St. Pölten, wusste der Arzt aus Krems, dass der Aufstieg zu der Schule, an der er selbst maturiert hatte, für ihn ein schwerer Gang sein würde. Nicht wegen der Steilheit der Frauenbergstiege zum Gymnasium, sondern weil er wusste, dass alle schulischen Signale für seinen Sohn Martin auf Rot standen. Seine Frau, deren erklärter Liebling Martin war, hatte die Lehrer immer in Verdacht gehabt, ihrem Sohn gegenüber voreingenommen zu sein. Dr. Ritzek wusste es besser. Sein Bub, der voriges Jahr die vierte Klasse mit Ach und Krach positiv abgeschlossen hatte, hatte bis jetzt einfach nichts getan, was darauf schließen ließ, dass er dieses Kunststück auch heuer wiederholen konnte. Ritzek hatte sich noch vor fünf Jahren nicht vorstellen können, dass er diese Schule, die erst vor Kurzem mit ihm als Gast der Festveranstaltung ihr Vierhundert-Jahr-Jubiläum gefeiert hatte, je ungern und schweren Herzens betreten würde.
Da er Angst hatte, seine Frau könnte die Nerven verlieren und einem Professor ihren Verdacht direkt ins Gesicht schleudern, war er selbst zu diesem Sprechtag gekommen. Zusätzlich hoffte er insgeheim auf einen kleinen Bonus für seinen Sohn. Immerhin hatte er seinerzeit an eben dieser Schule zu den hervorragendsten Schülern gezählt. Der Mathematik- und der Biologielehrer seines Sohnes würden sich sicher noch daran erinnern, waren sie damals doch seine Klassenkameraden gewesen. Außerdem war er als Primararzt eine bekannte Kremser Persönlichkeit.
Aber auch diese kleine Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Lehrer schienen ihm geradezu gnadenlos. Martin sei ein Träumer, der die Schule mit einer Wärmestube verwechselte. Zwar war er überall beliebt und auch wirklich liebenswert, aber Begriffe wie Logik, Präzision oder Disziplin waren für ihn vollkommene Fremdworte. Als der Mathematiklehrer auch noch mit kumpelhaftem Lächeln anmerkte, dass er manchmal gar nicht glauben könne, dass Martin Christophs Sohn sei, so sehr würden sich die Leistungen des Sohnes von denen des Vaters unterscheiden, war selbst der Herr Primar nahe daran, die Nerven zu verlieren. Natürlich hatte er keinen Zweifel an seiner Vaterschaft, doch diese Bemerkung, die von seinem ehemaligen Klassenkameraden entweder scherzhaft gemeint war oder unterstreichen sollte, wie gut er sich an den Schüler Christoph Ritzek erinnerte, erschien ihm ungehörig distanzlos.
Doch das Schlimmste war, dass diese Einschätzungen zutrafen. Sein Sohn war in seiner derzeitigen Form für kein Gymnasium geeignet.
Wie würde er das nur seiner Frau beibringen können? Weiß der Himmel, was mit seinem Sohn los war. Gott sei Dank hatten ihnen ihre Töchter, die beide die AHS in der Rechten Kremszeile besucht hatten, nie schulische Probleme bereitet. Die Älteste studierte bereits an der Medizinischen Universität in Wien. Und die Jüngere, die auch mit ihren Händen sehr geschickt war, machte gerade eine Ausbildung zur Prothesentechnikerin.
Zunächst hatte er überlegt, seiner Frau gar nicht die ganze Wahrheit zu sagen, um ihr nicht alle Hoffnung zu nehmen. Er hatte aber eingesehen, dass Martins Zeugnis für sie dann bloß ein noch größerer Schock sein würde. Wenn er ihr versprach, ihren Liebling die Klasse notfalls wiederholen zu lassen, würde sie über die schlimme Nachricht schon irgendwie hinwegkommen. Sollte sie auch, denn in vierzehn Tagen würden sie beide den zwanzigsten Hochzeitstag feiern.
Er hatte seine Marlies in Schwarzach/St.Veit kennengelernt, wo er nach seinem Turnus in Krems die Facharztausbildung begonnen hatte. In der Skisaison fast nur Knochenbrüche, viele davon sehr kompliziert. Sie war dort Krankenschwester gewesen. Obwohl er in seiner Studentenzeit und als junger Arzt alles andere als ein Kostverächter gewesen war, hatte er es mit seiner Wahl so ausgezeichnet getroffen, dass er seit der Heirat nie mehr auch nur in Versuchung geraten war. Sie hatte auch jeden seiner berufsbedingten Ortswechsel ohne Murren mitgemacht. Vor neun Jahren war er dann ans Ziel seiner Träume gekommen: das Chirurgie-Primariat in Krems.
Er hatte vorgehabt, seine Frau zum Hochzeitstag ins Danieli nach Venedig einzuladen, aber sie hatte entschieden abgelehnt. Viel zu teuer. Sie wünschte sich zum bevorstehenden Geburtstag ein Abendessen im Landhaus Bacher und zum Hochzeitstag eine Nacht im Schlosshotel Dürnstein, wo sie schon seinerzeit auf Wunsch seiner Marlies die Hochzeitsnacht verbracht hatten. Es musste auch wie damals Zimmer 34 sein, das er schon vor zwei Wochen reserviert hatte.
Eine Hochzeitsreise von Salzburg in die Wachau schien ihm durchaus angebracht. Aber was sollten sie jetzt in einem Hotel, das nur sieben Kilometer von ihrem höchst komfortablen Kremser Haus am Fuß des Rosenhügels entfernt war? Eine verrückte Idee. Doch er hatte gelernt, seiner Frau in gewissen Dingen nicht zu widersprechen.
4. April, 08:35 Uhr
Sie war noch am Vorabend von Spencer telefonisch darüber informiert worden, worauf er in Weißenkirchen gestoßen war. Ein höchst eigenartiger Fund. Wer vergräbt schon eine Frau in einem Weingarten? Noch dazu eine alte Frau, wenn sich die Information über die künstliche Hüfte als den Tatsachen entsprechend herausstellen sollte, woran sie keinen Zweifel hatte. Die Kontrollnummer konnte wahrscheinlich nicht mehr eruiert werden. Das machte die Sache nicht einfacher.
Sie war jetzt seit fast zwei Jahren Leiterin der Mordkommission und hatte es in diesen Jahren mit einer Reihe von spektakulären Mordfällen zu tun gehabt. Einige von ihnen waren ihr zunächst höchst rätselhaft erschienen, aber sie war immer sicher gewesen, die Rätsel letztlich zu lösen. Warum hatte sie seit gestern Abend ein derart ungutes Gefühl? Es war doch nicht einmal sicher, ob es sich um Mord handelte. Wahrscheinlich hatte ihr das Gespräch mit Marbolt mehr zugesetzt, als sie wahrhaben wollte.
Ihr Mann, dem sie von der unerfreulichen Begegnung erzählt hatte, schien die Sache nicht besonders ernst zu nehmen. Er hatte eine verblüffende Argumentation für seine Sorglosigkeit: Weder ein Landeshauptmann noch ein Minister würde eine erfolgreiche und gleichzeitig attraktive Frau gegen ihren Willen von ihrem Posten abziehen können. Das würde sich in der Öffentlichkeit gar nicht gut machen. Da müssten sie schon eine noch erfolgreichere und noch attraktivere Frau im Talon haben.
Beides zusammen ist so gut wie ausgeschlossen, wie er ihr mit dem Lächeln versicherte, mit dem er sie seinerzeit gegen harte Konkurrenz erobert hatte. Seine Worte gefielen ihr durchaus, beruhigten sie aber nicht wirklich. Sie hatte sich allerdings gefreut, als er ihr vor dem Einschlafen von