Wie Transfer gelingt (E-Book). Andreas Schubiger
einer Perle eine langwierige Angelegenheit.
•Ein weiter Transfer ist ein nicht alltägliches Ereignis – die Auftretenswahrscheinlichkeit kann durch eine geschickte Transferdidaktik wie bei der Zuchtperle erhöht werden.
•Das Sandkorn ist der Kristallisationspunkt eines Prozesses, der zuerst als störend (Widerstand, Aufwand, Verunsicherung) empfunden werden kann. Schlussendlich entsteht aus der Störung etwas Neues. Auch beim Transfer kann die Anforderung für das betroffene Individuum störend sein, Widerstände auslösen und von ihr einen grossen Veränderungsaufwand verlangen.
Ich hoffe, dass ich mit diesem Buch die eine oder andere Anregung zur «Perlenzucht» im eigenen Ausbildungs- und Lebensalltag geben kann. Für den konkreten Alltag soll die bewährte Methodensammlung auch eine ganz praktische Hilfestellung sein – im Wissen, dass aber das alleinige Anwenden dieser Methoden den Transfer noch nicht realisiert. In dem Moment, indem ich diese Zeilen zum Vorwort schreibe, lese ich über «Spiegel online», dass Finnland ab der Oberstufe die Fächer abschaffen will. Zukünftig arbeiten Lernende nur noch in interdisziplinärem «Phänomenunterricht». Vielleicht noch interessant: Mitarbeitende Lehrpersonen erhalten dafür eine Lohnerhöhung (2018, Spiegel online).
Ich habe die Arbeit an diesem Buchprojekt vor vier Jahren begonnen. Das Ziel, das Buch bereits Ende 2016 zu publizieren, verpasste ich deutlich. In diesen vier Jahren verschwand das Schreiben in den Hintergrund, weil das Leben mir gesundheitliche und berufliche Herausforderungen bereitstellte. Die Erfahrung der Endlichkeit und die Erkenntnis, dass Anhaften Leiden schafft, nehme ich mit grösster Demut an. All den lieben Menschen, die mich in dieser anspruchsvollen Zeit aktiv unterstützten und einfach da waren, bin ich mit grösster Dankbarkeit verbunden.
Im gesamten Buch begleiten uns die fünf Geschichten von Ruth, Anita, Erich, Hans und Louise. Diese Geschichten stehen stellvertretend für die alltäglichen Herausforderungen des Transfers. Ihre konkreten und aus dem Leben gegriffenen Schilderungen illustrieren die Allgegenwärtigkeit von Transferleistungen, die wir uns abverlangen, deren Schwierigkeiten, Widerstände und aber auch Lösungsmöglichkeiten.
Ruths Handeln unter Druck
«Völlig falsch» – unterbricht Ruth ein Geschäftsleitungsmitglied enerviert mit einem besserwisserischen Ton. Die angesprochene Person, sichtlich verärgert, kontert mit einem bissigen Gegenargument. Die beiden Kontrahenten steigern sich und der Disput eskaliert in einem Schlagabtausch. Sie fallen sich gegenseitig ins Wort und hören einander nicht zu. Die Sitzungsleitung unterbricht und mahnt zur Besonnenheit.
Ruth zieht sich beschämt zurück und sagt kaum noch etwas in der laufenden Sitzung. Sie kennt die Situation zur Genüge, die sich dauernd wiederholt, obwohl sie weiss, dass sie anders handeln müsste. In strategischen Diskussionen werden Argumente von «veränderungsresistenten» Geschäftsleitungsmitgliedern eingebracht, die nach ihrer Meinung schlicht nicht richtig sind, sondern vielmehr dazu dienen, die traktandierten Veränderungen zu blockieren. Immer wieder kontert sie in diesem Ton und das Gegenüber schlägt zurück. Immer wieder nimmt sie sich vor, diese Situationen sachlich und besonnen anzugehen. Es kommt ihr aber vor, als ob sie von der Situation provoziert werde und sie ihrer nicht mächtig ist – als ob in solchen Situationen ein Autopilot aktiv wäre.
Ruth fühlt sich dabei und danach erst recht nicht gut. In Gesprächen mit einem guten Freund stellt sie fest, dass sie körperlich mit Stress reagiert und sie die misslungenen Interaktionen auch noch nächtelang beschäftigen.
In weiteren Gesprächen erinnert sich Ruth an ein vor Jahren stattgefundenes Antistressseminar. Damals hatte sie in einer Selbstreflexionsübung genau diesen Typ von Situation als persönlichen Stressfaktor identifiziert. Sie hatten damals auch geübt, wie man sich in solchen Situationen herunterkühlt und die Ruhe bewahrt. Dies hat eigentlich in der Übung ganz gut funktioniert. Ebenso hatten sie Handlungsalternativen für die angesprochenen Situationen formuliert. Ja, jetzt erinnert sie sich wieder ganz gut – so als ob es gestern gewesen wäre. Warum hatte sie es eigentlich nie in die Tat umgesetzt? Irgendwie hat sie der Alltag wieder eingeholt.
Ruth stellt einen Handlungsplan auf. Das nächste Mal, wenn sie fühlt, dass sich eine solche Situation anbahnen könnte:
•erkennt sie die Vorwarnsignale dieser Situation,
•nimmt sie tief Luft und reagiert nicht verbal,
•hört sie dem Kontrahenten mit Interesse zu, bis er seine Argumentation abgeschlossen hat, auch wenn diese noch so viele Fehler enthält,
•versucht sie, ihn ohne Beurteilung in seiner Logik zu verstehen,
Erst dann reagiert sie mit Verständnisfragen im Sinne eines aktiven Zuhörens, würdigt sie den einen oder anderen Teil der Argumentation, bringt sie dann erst ihre Gegenargumente, ohne die Argumente des Kontrahenten zu entwerten, weil ja Gegenargumente an sich genügend Kraft haben und auf die Sache und nicht auf Person abzielen.
Ruth hat wöchentlich Gelegenheit, in Sitzungen diese Taktik anzuwenden. Warum ist sie nicht schon früher auf diese Idee gestossen? Vor der nächsten Sitzung nimmt sich Ruth in der Früh nochmals eine Viertelstunde Zeit und stellt sich mit geschlossenen Augen den Ablauf der Sitzung mental vor: Sie durchspielt mögliche kritische Situationen, die ihr neues Handeln erfordern. Jetzt ist sie bereit.
Die Sitzung ist ein Erfolg. Ruth hat nicht nur ihre Argumente einbringen können. Die Sitzung war auch deutlich entspannter. Offenbar hat es auch ihr Vorgesetzter bemerkt. Dieser lobt sie wertschätzend nach der Sitzung unter vier Augen und spornt an! Ruth wiederholt ihre Taktik, wird von Sitzung zu Sitzung entspannter und auch wirkungsvoller. Sie merkt aber auch, dass es ihre volle Gegenwärtigkeit verlangt und sie in unachtsamen Situationen schnell wieder in das alte Muster verfällt.
Anitas Mathefrust
«Endlich verstehe auch ich die Mathematik», denkt sich Anita. Sie besucht eine höhere Fachschule für Technik und sitzt in der Mathematikstunde. Eigentlich mochte sie Mathematik. Aber irgendwie ist es ihr nie gelungen, den tieferen Sinn zu verstehen. Sekundarlehrer Hoffmann meinte jeweils etwas zynisch: «Ja, entweder man hat es oder man hat es nicht», wenn sie ratlos über Algebraaufgaben brütete.
Den tieferen Sinn hat sie noch immer nicht gefunden. Doch ihr aktueller Mathelehrer Müller zeigt der Klasse Schritt für Schritt, wie die Aufgaben zu lösen sind, und gibt ihr (der Klasse) eine Menge von Übungsmöglichkeiten gleichartiger Aufgaben. «Lineare Gleichungssysteme mit drei Unbekannten», hört sich ziemlich kompliziert an. Erstmals in ihrem Mathematikleben löst Anita selbständig und mit Sicherheit ihre Mathematikaufgaben. Sie hat von ihrer Lehrperson zwei Verfahren zur Auflösung des Gleichungssystems mit Musterbeispielen erhalten. Mit Leichtigkeit löst sie Aufgabe für Aufgabe, löst fleissig nach x, y und z auf, und die eine oder andere Aufgabe erklärt sie stolz anderen Mitstudierenden. Die Klassenarbeit schliesst sie fast mit einer Höchstnote ab.
Drei Monate später im Fach Elektrotechnik werden in der Gleichstromlehre Maschensatz und Knotenregel besprochen. Na ja, eigentlich hatte sie diese beiden Gesetze ja schon von der Elektroinstallationslehre gekannt. Die Fachlehrerin fordert die Klasse auf, mit Hilfe des Maschensatzes und Knotensatzes drei Gleichungen für die unbekannten Ströme aufzustellen – mit der Nebenbemerkung, dass sie ja schliesslich vor drei Monaten bei Kollege Müller die Gleichungssysteme mit drei Unbekannten bereits behandelt hätten. Was hat jetzt dies mit der Mathematikstunde von Müller zu tun, denkt sich Anita, sie ist nicht allein mit diesem Gedanken. Unruhe und Unverständnis breitet sich in der Klasse aus. Mutig meldet sich Horst und meint, dass sie dergleichen noch nie in der Mathematik behandelt hätten. Etwas genervt stellt die Fachlehrerin an der Wandtafel die drei Gleichungen auf. «Wenn doch innerhalb einer Masche die Summe der Spannungen Null ergeben soll, dann ergibt dies doch mit der Ohmschen Regel U = R * I und den zwei Maschen zwei Gleichungen. Und die dritte Gleichung? Ist doch auch logisch, dass wir hier die Knotenregel nehmen und die Summe der Ströme ebenfalls Null ergeben muss»,