Ausbildung der Ausbildenden (E-Book, Neuauflage). Geri Thomann
und Analyse
●Nicht-Funktionieren, Misserfolg, Fehler und Scheitererfahrungen nehmen sozusagen «kulturell» in Aus- und Weiterbildung sowie in der berufsbegleitenden Professionalisierung von Dozierenden und Lehrpersonen einen wichtigen Platz als Ausgangslage für Lernen und «Navigationskorrekturen» ein. Ganz im Sinne des Weick'schen Organisationsverständnisses (vgl. Kap. VII, 3.4.) lässt sich im Rahmen der institutionalisierten Professionalisierung das Scheitern als stetes Analysekriterium und Option aufnehmen und damit enttabuisieren. Dieses Verständnis ergänzt zumindest die herrschende Null-Fehlerkultur (Fehlervermeidung) im Rahmen aktueller Qualitätsmanagementbestrebungen.
Möglichkeiten und Gefässe schaffen für Umdeutungs- und Reflexionsprozesse
●Grundsätzlich sind Aus- und Weiterbildende in ihrer täglichen Arbeit «existentiell betroffen», was darauf hinweist, dass der berufsbegleitenden persönlichen Praxisverarbeitung viel Bedeutung beigemessen werden muss. Umgang mit Brüchen beispielsweise als Scheitererfahrung (Kontrollverlust, Ohnmacht) und in der emotionalen «Scheiterchronologie» auftretende Angst vor Scheitern wie auch Enttäuschungen im Nachhinein sind relevant.
Dieser Umstand wiederum bedingt den Zugang zu Möglichkeiten der Distanzierung zu Gunsten von Umdeutungsprozessen (Loslassen, Grenzen erkennen etc.).
Hilfreich wären demnach «reflexive Unterstützungsinseln» (teilweise firmenintern, um organisationales Lernen zu ermöglichen, teilweise – wenn Anonymitätsschutz notwendig ist – ausserhalb der eigenen Organisation, zum Beispiel durch Peer-Intervisionsstrukturen), welche der emotionalen Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen Platz schaffen und akkommodative Umdeutungsprozesse ermöglichen, dies, bevor die Arbeitsstelle gewechselt wird, werden muss oder die Pensionierung ansteht.
Arbeiten an persönlichen biografisch gewachsenen Verhaltensmustern
●Der Umgang mit Erfolgsdruck zeigt bei Ausbildenden, dass einerseits biografische Muster und andererseits strategische Vorgehensweisen zu mehr oder wenig hilfreichem Umgang mit Druck führen. Hier braucht es Arbeit an der eigenen Person, das Analysevermögen in Bezug auf eigene Verhaltenstendenzen. Dies heisst, begleitende Coaching-Formen benötigen immer Anteile von «Arbeit an der Person». Ein solcher Zugang benötigt Zeit und ist nicht effizient zu «erledigen» oder zu «lösen».
Klären von Kompetenzen, Rollen und Aufträgen
●Die adäquate Kompetenz-, Rollen- und Auftragsklärung helfen Ausbildenden dabei, Komplexität zu reduzieren. Ungeklärte Verhältnisse führen zu Scheitererfahrungen, Ohnmachtsgefühlen und Enttäuschungen. Hilfreiche Planungs- und Orientierungsinstrumente bieten innerhalb von Aus- und Weiterbildung, aber auch in begleitendem Coaching Unterstützung. Dies geschieht nicht im Sinne starrer Fixierung von Rollen und Aufgaben, sondern als Instrument steter Kalibrierung. Sie ermöglicht Versicherung von Klarheit und transparente Vereinbarung von nächsten Schritten.
Die Explikation von «gescheiterten Erfahrungen» und ausgeblendeten Prozessen sowie den Austausch darüber nenne ich in Anlehnung an Richard Sennett (2000, S. 159 ff.) «produktiv», weil sie in einem Gestaltungs- und Verarbeitungsprozess Reflexion und Handlung ermöglichen sowie Perspektiven eröffnen[1]. Auf den Begriff «produktives Scheitern» bin ich über einen Text auf der Basis eines Interviews mit dem Schweizer Komponisten Nadir Vassena (Baldassare 2000) gestossen, in welchem das Komponieren als tägliches produktives Scheitern beschrieben wird.
3.4Die Berufssozialisation von Lehrenden
Der Bereich berufliche Weiterbildung muss Berufsbiografie und damit die Berufssozialisation ins Auge fassen.
Sozialisation wird als produktive Verarbeitung von innerer und äusserer Realität verstanden (vgl. Hurrelmann/Bauer 2018, S. 98). Sozialisation ist damit ein Prozess der Entstehung und Entwicklung menschlicher Persönlichkeit, der abhängt von und sich auseinandersetzt mit den sozialen und materiellen Lebensbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt einer Gesellschaft. Insofern gleichen sich Biografie- und Sozialisationskonzept.
Vielleicht wird der Mensch in Letzterem (mehr noch als in der «prägenden» Biografie) eher noch als handlungsautonomes Subjekt verstanden.
Sozialisationebenen sind nach Tillmann (2017, S. 23):
SOZIALISATIONSEBENEN
aus: Tillmann 2017, S. 23
Sozialisierende Systeme sind laut Hurrelmann und Bauer (2018, S. 181):
aus: Hurrelmann und Bauer 2018, S.181
Nun sind die dargestellten Ebenen und «Mitsozialisatoren» erstens noch nicht berufsspezifisch fokussiert, zweitens wirken sie eher statisch.
An der beruflichen Sozialisation interessiert uns die chronologische Entwicklung eines «Sozialisanden», also das, was berufsspezifisch in einer zeitlichen Professionalisierungachse mit einer Berufsperson geschieht oder was sie mit sich macht resp. machen lässt.
Unter den Stufen oder Phasen von beruflicher Entwicklung wird meist die «Initiationszeit» (Anfängerjahre) als «Sozialisation» im Sinne von Anpassung bezeichnet; gemeint ist damit die prägende Anfangsphase, in der die berufliche Sprache, der Jargon, das spezifische Verhalten und andere Werte, Normen und Fähigkeiten meist implizit gelernt werden. Selbstverständlich beschränkt sich Sozialisation im eigentlichen Sinn nicht auf diese Anfangsphase.
Im Folgenden zeige ich drei in ihrer Reihenfolge an Komplexität zunehmende Phasenmodelle der beruflichen Sozialisation im Sinne der angesprochenen Professionalisierung.
Modell A: Vom Überleben zur Routine
Fuller und Brown entwickelten (in: Dick 1997, S. 29, 1996, S.48) ein Konzept mit drei Entwicklungsstufen von Lehrenden:
1. survival stage
Hier ist die Lehrperson vorwiegend mit sich selber als Person beschäftigt.
2. mastery stage
Hier steht die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts im Zentrum, die Lehrperson ist mit sich als Lehrperson beschäftigt.
3. impact stage (oder routine stage)
Solche Entwicklungsstufen sind nicht in sich geschlossen und Phasenübergänge nicht stets klar zu orten.
Eine Lehrperson mag trotz Routine in einer schwierigen Situation wieder im Überlebenskampf sein, einer anderen Lehrperson dagegen hilft methodisch-didaktische Gestaltung zu «überleben». Dennoch sprechen viele Lehrende von den – ihren Worten gemäss – lehrreichen «Überlebensjahren», in denen sie mit theoretisch Erlerntem nicht viel anfangen konnten, sondern einfach handeln mussten. Dass «mastery» oder sogar «routine» nicht durch eine theoretische «Rucksackausbildung» erzeugt werden kann, zeigt sich hier, ebenso wie der Umstand, dass einer angepassten begleitenden Weiterbildung innerhalb fortschreitender Professionalisierung zentrale Bedeutung zukommt.
Modell B: Entwicklungsverläufe in Lehrer/innenbiografien
Hubermann (1991 in: Terhart 1998, S. 573) entwickelte ein differenziertes Modell von beruflichen Entwicklungsverläufen in Lehrerbiografien. Obschon damit nicht explizit Ausbildner/innen für Erwachsene beschrieben werden, kann dieses Modell zweifelsohne auch Fachleuten der Weiterbildung als Anregung dienen:
ENTWICKLUNGSVERLÄUFE IN LEHRER/INNENBIOGRAFIEN
Hubermann 1991 in: Terhart 1998
Überleben und Entdecken sind während des Berufseinstiegs die zentralen Motive