Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein
an die kulturellen Regeln für höfliches, aber förmliches Verhalten. Jeder hat gelernt, wie man den Wunsch nach Förmlichkeit und Distanz bzw. nach größerer Nähe signalisiert. In jedem Fall entscheiden, ob bewusst oder unbewusst, Gleichheit und Fairness darüber, wie man sich in der Beziehung fühlt und ob und wie weit man sie vertiefen will.
Die Tiefe einer Beziehung definiert sich also danach, wie viel Wert man gefahrlos beanspruchen kann, wenn man sich öffnet. In diesem Kontext bedeutet Vertrauen den Schutz des Selbstwertgefühls, denn in einer tiefen Beziehung ist die Gefahr größer, ausgenutzt, ignoriert, herabgesetzt oder in anderer Weise nicht bestätigt zu werden.
Ein nicht gleichberechtigtes Gespräch kann beleidigend wirken. Man ist beleidigt, weil der beanspruchte Wert nicht anerkannt wurde; der Gesprächspartner hat nicht begriffen, wer man ist und wie wichtig (jedenfalls nach eigener Einschätzung) die Botschaft war. Bei neuen Beziehungen ist deshalb Vorsicht geboten; die Regeln der Gegenseitigkeit und Ausgeglichenheit müssen geklärt und eingehalten werden. Die förmlichste Annäherung ist deshalb in der Regel auch die sicherste. Das erklärt auch das extreme Maß an Förmlichkeit in der internationalen Diplomatie – das Risiko einer Beleidigung zwischen Staaten ist einfach zu groß. Förmlichkeit schützt beide Parteien vor Affronts. Allerdings hängt auch das von der Situation ab. Wenn ich mich einem alten Bekannten gegenüber sehr förmlich verhalten, weil mir sein Name nicht mehr einfällt, wird er beleidigt sein, weil ich ihn vergessen habe. Die Erinnerungslücke könnte also sehr peinlich werden. Wer Hilfe anbietet, erwartet eine von zwei Reaktionen: Annahme mit anschließender angemessener Belohnung oder dankende Ablehnung. Nicht zu reagieren ist nicht erlaubt – ein Hilfsangebot muss entweder dankbar angenommen oder sofort mit einem höflichen Dankeschön bzw. einer Erklärung abgelehnt werden. In beiden Fällen muss damit umgegangen werden. Jeder hat zu beurteilen gelernt, welche Reaktion in einer bestimmten Situation angemessen und fair ist. Selbst wenn ich keine Hilfe brauche, kann ich sie von meinem Chef annehmen, wenn andere dabei sind und die Situation das verlangt. Bin ich aber mit ihm in der Kneipe und er signalisiert, dass Förmlichkeit nicht verlangt ist, kann ich das Angebot mit einem schlichten »Nein, danke« ablehnen. In der japanischen Kultur ist es üblich, dass Angestellte ihrem Chef in der Bar all das sagen können, was im nüchternen Zustand oder am Arbeitsplatz eine Beleidigung und ein Angriffauf das Image wäre, hier aber als Feedback gewertet wird.
Fassen wir zusammen: Vertrauen hat zwei Komponenten, die sich aus der sozialen Ökonomie ableiten. Jemandem zu vertrauen, heißt erstens, dass der Wert, den man in Interaktionen mit diesem Menschen beansprucht, verstanden und akzeptiert wird, und zweitens, dass man vom anderen nicht übervorteilt und ausgenutzt wird. In allen Beziehungen spiegelt das Niveau der Intimität das Vertrauen, dass die Beteiligten über ihre Mitteilungen erworben haben. Diese wechselseitige Prüfung setzt sich fort, bis einer oder beide erkennen, dass alles, was sie über das aktuelle Niveau hinaus mitteilen, wohl nicht mehr verstanden und akzeptiert würde. Verstößt einer der Beteiligten gegen die zweite Komponente und nutzt das ihm Anvertraute dazu, den anderen in Verlegenheit zu bringen oder aus dem Wissen Profit zu schlagen, ist das Vertrauen verloren; entweder ist die Beziehung zu Ende oder die Kommunikationsebene kehrt zur Oberflächlichkeit des Anfangs zurück.
Ich habe zum Beispiel erlebt, dass ein Freund, dem ich sehr persönliche Dinge anvertraut hatte, eine meiner Geschichten in ausgesprochen herabsetzender Weise anderen erzählte. Danach war mir die Ebene der Intimität, die wir vorher erreicht hatten, nie mehr möglich. Und ich weiß von einer Consultingfirma, die den Auftrag einer Schule, in der sie sehr erfolgreich gearbeitet hatte, verlor, weil ein Lehrer gehört hatte, wie einer der Berater zum anderen sagte: »Ein interessantes Projekt, aber die Lehrer sind ja wirklich ziemliche Dummbeutel.«
Soziales Theater
Die oben beschriebene soziale Ökonomie spiegelt das kontinuierliche Schauspiel des Lebens. Schauspiel deshalb, weil die Situationen durch Regeln bestimmt werden, die Schauspieler und Zuschauer als angemessen empfinden. Die Skripten für Rollenbeziehungen werden sehr früh festgelegt, und das Alltagsleben lässt sich als Set von Szenen verstehen, in denen wir das angemessene Verhalten durchspielen. Wir zeigen durch unser Spiel, wie viel Wert wir für uns in Anspruch nehmen und dass wir unsere Rollen, ob als Schauspieler oder Zuschauer, im alltäglichen Fluss sozialer Aktionen beherrschen. Auch hier zeigt die Alltagssprache, wie weit die Metapher des Theaters unser Denken prägt.
Zahlreiche Wörter und Wendungen verweisen auf das Theaterspiel. Man gibt jemandem ein Stichwort, hat bei einer Konferenz seine Rolle gut gespielt, mag die Rolle nicht, in die man auf einer Party gedrängt wird, oder entwirft ein Szenarium. Weit weg von jedem Schauspielhaus bewundern wir einen perfekten Auftritt, loben die perfekte Gastgeberrolle und sind verstimmt, wenn wir merken, dass uns jemand Theater vorspielt. Wir finden, jemand habe eine ziemliche Schau abgezogen oder einem anderen die Schau gestohlen, fallen selbst aber auf das Th eater nicht herein. Und wir setzen uns in Szene, bewundern die gelungene Inszenierung eines politischen Coups und brauchen mal wieder Szenenwechsel, wollen aber keinesfalls eine Szene machen. Wir soufflieren einem Freund, übernehmen bei der Konferenz die Regie – und fragen uns, was sich wohl hinter den Kulissen abspielt.
Die erste und wichtigste Rollenbeziehung ist die zwischen Eltern und Kind. Wir lernen früh, wie man sich unterordnet, sich durchsetzt, obwohl man weder Macht noch Autorität besitzt, und, was am wichtigsten ist, wie man Autoritätspersonen gibt, was sie für eine ausgeglichene Beziehung brauchen. Das üben wir unser Leben lang, weil es immer Menschen gibt, die uns überlegen sind. Beim Heranwachsen lernen wir den richtigen Umgang mit Gleichaltrigen und Unterlegenen, und wenn wir erwachsen sind, werden wir selbst Eltern. Der Soziologe Erving Goffman (1967) hat das als Regeln für »Ehrerbietung und Benehmen« bezeichnet. Als Kinder und Untergebene lernen wir Ehrerbietung, als Eltern und Chefs, wie wir auft reten müssen, um den Respekt der Untergebenen zu gewinnen und zu bewahren. Die Regel zum Beispiel, dass Angestellte einen Vorgesetzten nie unterbrechen sollten, gilt umgekehrt nicht. Von einem Mitarbeiter wird im Gespräch mit dem Vorgesetzten erwartet, dass er sein Interesse durch aufmerksame Haltung und sein Verständnis durch bestätigendes Nicken zeigt, von einem Vorgesetzte erwartet man, dass er sich durch autoritatives und klares Verhalten den Respekt der Untergebenen sichert.
Mehrdeutige oder missverständliche kulturelle Regeln können tragische Folgen haben. In den südafrikanischen Goldminen zum Beispiel bestraft en weiße Manager schwarze Arbeiter, die ihnen »nie in die Augen sehen konnten«, wegen Aufsässigkeit und Unzuverlässigkeit, weil sie nicht wussten, dass es in den Stämmen, aus denen die Arbeiter stammten, als Zeichen der Respektlosigkeit und völlig unannehmbar galt, Blickkontakt zu einer Person mit höherem Status aufzunehmen.
Ein anderes Beispiel sind Dresscodes: Angestellte können sich relativ formlos, Chefs müssen sich relativ förmlich anziehen – sie sind einer Art Uniformzwang unterworfen. Aber bei einer Konferenz, bei der der Chef anwesend ist, gebietet es der Anstand, sich ebenfalls förmlich zu kleiden. Es zählt zu den wichtigsten Bereichen des sozialen Lernens, wann und wie man Respekt zeigen muss. Wir lernen auch, dass ein Chef, der sich nicht förmlich kleidet, die formelle Status-Distanz verringern will. Wird das nicht durch andere egalitäre Verhaltensweisen, ergänzt, sind meist Spannungen die Folge, weil die Mitarbeiter glauben, der Chef wolle die größere Nähe irgendwie ausnutzen. Die öffentliche Diskussion über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat diesen Aspekt der Regeln für Ehrerbietung und Benehmen sichtbar gemacht. Ein Klaps auf den Hintern, eine Umarmung oder ein schmutziger Witz über die Geschlechter- und Statusgrenzen hinweg führen oft dazu, dass sich die Betroffenen nichtgleichberechtigt und ausgebeutet fühlen.
Je höher der Status, desto förmlicher und starrer die Verhaltensregeln. Führungskräft e haben zum Beispiel auch deshalb ihre eigene Toilette, weil ihnen das einen Ort gibt, um sich vor der Begegnung mit ihren Untergebenen zu sammeln. Zudem unterstreicht dieses Privileg die Vorstellung vom sozialen Wert, der mit dem Status verbunden ist – je höher der Wert, desto sakrosankter die Person. Heute, zu einer Zeit, in der Managern klischeehaft fast schon übermenschliche Eigenschaft en zugeschrieben werden, erwartet man einfach nicht, Superman auf der Angestelltentoilette zu treffen.
Über die größere Förmlichkeit hinaus sind Autoritätspersonen weiteren Regeln unterworfen. Bei Kindern ist der Spielraum