Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein
Helfen ist also eine Beziehung, aber der Prozess des Anbietens und Annehmens halbformeller oder formeller Hilfe beginnt meist mit einer individuellen Initiative. Das heißt, man muss begreifen, wie aus dem anfänglichen Kontakt zwischen potentiellem Helfer und potentiellem Hilfesuchenden eine Beziehung wird, die zur Hilfe führt. Eine helfende Beziehung entsteht, wenn jemand hilft , Hilfe anbietet oder Hilfe sucht. Ein Teamleiter sucht sich eine Reihe von Leuten und setzt einen Prozess des Aufbaus von Beziehungen in Gang, der dazu führt, dass sich die Mitglieder des Teams gegenseitig helfen. Ein Berater hilft einem Manager, Arbeitseinheiten so zu strukturieren, dass sie sich gegenseitig helfen und die Ziele der Organisation erreicht werden können. Und auch wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft erkennt, dass sie kollektiv Hilfe braucht, muss jemand dieses Bedürfnis artikulieren und ins gemeinsame Bewusstsein holen, damit der Prozess einer helfenden Beziehung in Gang kommt.
Wir müssen uns also zunächst auf die Frage konzentrieren, wie aus persönlicher Initiative eine Beziehung entsteht. Wer die Dynamik des Beziehungsaufbaus kennt, kann eine effektivere helfende Beziehung entwickeln.
In den folgenden Kapiteln werde ich einige grundlegende Regeln für Beziehungen und ihre Anwendung auf die helfende Beziehung untersuchen. Wir werden die ungleichen, unklaren Rollen in der helfenden Beziehung betrachten, die verschiedenen möglichen Rollen der Helfer in einer ausgeglichenen und angenehmen Beziehung, den Aufbau einer solchen Beziehung und die Interventionen im Verlauf der Entwicklung der Beziehung zwischen Klient und Helfer.
Anmerkung
* Diese Kapitel ist auf Deutsch in leicht geänderter Form zuerst erschienen in: Profile 17 (2009), 5-9; aus dem Amerikanischen von Irmgard Hölscher.
2. Kapitel
Ökonomie und Theater – Das Wesen der Beziehung
Es gibt zwei kulturelle Grundprinzipien, die wir von klein auf lernen. Das erste und wichtigste lautet: Jede Kommunikation zwischen zwei Parteien ist ein reziproker Prozess, der fair und gerecht sein oder zumindest scheinen muss. Um in der sozialen Welt zu überleben und sich wohl zu fühlen, muss man die Regeln der sozialen Ökonomie kennen. Das beginnt auf der einfachsten Ebene: Kinder lernen, sich für ein Geschenk zu bedanken oder es sonst irgendwie anzuerkennen. Der Dank ist die Gegenleistung, die Erwiderung, die die Kommunikationsschleife schließt und für Fairness und Ausgleich in der Interaktion sorgt. Kinder lernen auch, dass sie der Person, die sie anspricht, Aufmerksamkeit schulden. Das Wort »schulden« verweist darauf, dass die Informationen oder Anweisungen des anderen einen bestimmten Wert haben. Wie wir sehen werden, erwartet man in allen Beziehungen Wechselseitigkeit. Wer sich nicht revanchiert, riskiert, den anderen zu verletzen und die Beziehung scheitern zu lassen.
Das zweite kulturelle Grundprinzip besagt, dass Beziehungen in allen menschlichen Kulturen auf festen Rollen basieren, die sehr früh erlernt und dann so automatisch werden, dass man sich ihrer gar nicht mehr bewusst ist. Man muss seine jeweilige Rolle richtig und der jeweiligen Situation angemessen spielen. Wenn zwei Beteiligte miteinander sprechen, müssen sie entscheiden, wer Akteur (Sprecher) und wer Publikum (Zuhörer) ist. Diese Rollen können sehr rasch wechseln, müssen aber immer komplementär sein, damit soziale Interaktion funktionieren kann. Der ökonomische Wert einer Interaktion wird von diesem Grundprinzip – der Definition der Situation – bestimmt, denn es legt fest, welche Rolle man spielt und welchen Wert man ihr beimisst. Wer durch Tonfall und Verhalten zeigt, dass er etwas Wichtiges zu erzählen hat, definiert damit die Situation, die Rollen und den Austausch. Der andere nimmt automatisch eine aufmerksame Haltung ein; er zeigt mit seinem Verhalten, dass er zuhört. Er erwartet eine wichtige Botschaft und ist beleidigt oder irritiert, wenn er merkt, dass er nur von dem abgelenkt werden soll, was er gerade tut. In diesem Fall hat der Sprecher seine Rolle nicht so gespielt, wie es die von ihm definierte Situation verlangte.
Das normale Alltagsleben besteht aus einer ganzen Reihe solcher Definitionen. Sie geben vor, welche Rolle man spielen soll und was man von anderen erwarten kann. Wir lernen zum Beispiel, dass wir uns gegenüber Menschen mit höherem Status ehrerbietig verhalten müssen. Wenn wir als Vorgesetzte unseren Mitarbeitern begegnen, definiert die Situation das Verhalten, das unserem Status entspricht. Auf diese Weise lernen wir, welchen Wert wir der eigenen und der Rolle der anderen beimessen können. Gerechte, faire Beziehungen erfordern keineswegs den gleichen Status, sondern ein Verhalten, das den jeweiligen Status und die jeweilige Situation berücksichtigt. Die Situation bestimmt, wie viel Wert jeder Beteiligte für sich beanspruchen kann. Werde ich bei einer wichtigen Konferenz als Redner vorgestellt, steigt mein Wert, und das Publikum erwidert das mit größerem Respekt. Treffe ich die Teilnehmer später bei einem Glas Wein, ist mein Status weiterhin höher, aber die Situation verlangt weniger Förmlichkeit. Ich muss also nicht mehr so viel Wert beanspruchen und kann andere zu einem lockeren Austausch ermutigen.
In der Umgangssprache bezeichnet man diesen Wert als »Image«. Jeder Beteiligte an einer Interaktion beansprucht ein gewisses Maß an Image, und die Regeln der Gegenseitigkeit erfordern, dass dieser Anspruch von den anderen Beteiligten akzeptiert und bestätigt wird. Mit der Bemerkung: »Ich will dir etwas sagen«, erhebe ich den Anspruch, etwas zu wissen, was meiner Meinung nach für den Gesprächspartner von Wert ist. Damit ist der andere dafür verantwortlich, zuzuhören und den Mund zu halten, er schuldet mir Aufmerksamkeit. Hier kommt wieder das Wort »schulden« ins Spiel. Man spricht auch von »Investitionen« in eine Beziehung, das heißt, man erarbeitet sich soziales Kapital, auf das man später, wenn man zum Beispiel um einen Gefallen bittet, zurückgreifen kann.
Wenn man beschließt, den Anspruch des anderen nicht zu akzeptieren und ihn ignoriert oder in Verlegenheit bringt, beschädigt man sein Image und erweist sich selbst als unhöflich oder aggressiv. So gesehen ist es eine kulturelle Binsenwahrheit, dass durch die mangelnde Anerkennung eines Anspruchs beide Beteiligten ihr Gesicht verlieren. Man kann die Ansprüche des anderen aber auch höflich akzeptieren und gleichzeitig durch kluges Reden oder Verhalten einen höheren Status beanspruchen, d.h. die Anerkennung des eigenen höheren Anspruchs fordern. Soziale Interaktion ist also entweder ein komplizierter Balanceakt im Dienste der wechselseitigen Imagepflege oder eine Möglichkeit, Status zu gewinnen.
Situationsabhängige Rollen und Regeln haben sogar Vorrang vor eigenen formalen Werten. So bringt man zum Beispiel einem Kind nicht nur bei, immer die Wahrheit zu sagen, sondern erklärt ihm auch, dass es die stark übergewichtige Nachbarin trotzdem nicht als »dicke Frau« bezeichnen darf. Es gehört zum Prozess des Heranwachsens, dass man lernt, wann Offenheit und wann Diplomatie angebracht ist und was man am besten übersieht und überhört. Aber eben diese Fähigkeit zur Zurückhaltung und Lüge wirft in Beziehungen die Vertrauensfrage auf. Aufrichtigkeit, Kongruenz und Vertrauenswürdigkeit sind die Maßstäbe, mit denen man beurteilt, wie weit jemand über seine verschiedenen Rollen hinweg als beständig wahrgenommen wird und wie sehr das Image, das er sich nach außen gibt, zu seinen inneren Werten passt.
Im Erwachsenenalter beherrschen wir eine Unzahl verschiedener Rollen und Skripte und können die ganz unterschiedlichen vorgegebenen oder selbst geschaffenen Situationen und Beziehungen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind, problemlos identifizieren und bewältigen. Diese kulturelle Dynamik spielt, wie wir sehen werden, in der helfenden Situation eine entscheidende Rolle, denn Klient und Helfer begegnen sich mit einem von ihnen selbst festgelegten Maß an Image. Die weitere Entwicklung der helfenden Situation hängt oft von dem Wert ab, den der Klient dem Helfer und der Helfer dem Klienten zubilligt, und das wiederum ist von ihrem wechselseitigen Vertrauen abhängig. Im Folgenden werde ich diese Dynamik näher untersuchen.
Soziale Ökonomie: Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung
Alle Kulturen sind von den Regeln des Ausgleichs und der Gegenseitigkeit geprägt, die festlegen, welchen Wert wir uns in Beziehungen beimessen. Was aber sind die sozialen Währungen für diesen Austausch? Die Antwort lautet: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Akzeptanz, Lob und Hilfe. Hilfe im umfassenden Sinne des Wortes ist dabei eine der wichtigsten Währungen,