Prozess und Philosophie des Helfens. Edgar H. Schein

Prozess und Philosophie des Helfens - Edgar H. Schein


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dass wir sie kaum bemerken und selten als solche erkennen. Sie fällt nur auf, wenn sie ausbleibt, und wir reagieren negativ auf die Person, die sie uns verweigert hat. Mit anderen Worten: Bittet jemand um Hilfe, sind wir verpflichtet zu helfen oder eine angemessene Entschuldigung vorzubringen. Und umgekehrt sind wir verpflichtet, ein Angebot zur Hilfe anzunehmen oder eine passende Entschuldigung vorzutragen. Die Bitte erfordert die Reaktion, das Angebot den Dank. Jemanden als nicht hilfsbereit zu bezeichnen, hat eindeutig negative Konnotationen und stellt die Zuverlässigkeit des Betreffenden als Mitglied der Gruppe infrage.

      Der Wert, den wir uns und anderen zumessen, wird durch unser soziales Verhalten vermittelt, durch die Entscheidungen, die wir treffen, und das Image, das wir projizieren. Die ungeschriebenen ökonomischen Regeln, die festlegen, wie viel man beanspruchen kann und wie stark man das Image des Beanspruchenden wahren muss, unterscheiden sich je nach Kultur und Umständen, aber die Alltagssprache zeigt deutlich, dass es sich bei der sozialen Interaktion um ein ökonomisches Phänomen handelt.

      Die Sprache, die wir alltäglich benutzen, ist verräterisch: Wir schenken Aufmerksamkeit, zollen Respekt, lösen gesellschaftliche Verpflichtungen ein, spenden Lob und zahlen die Zeche. Auch das Konzept von Kauf und Verkauf gehört zum Alltagsvokabular: Wir verkaufen uns unter Wert, kaufen jemandem eine Geschichte ab oder auch nicht und fragen uns sarkastisch, welche Meinung man uns wohl heute wieder verkaufen will. Zahllose Begriffe beziehen sich darauf, wie man gibt und nimmt und diese Transaktionen im Auge behält: Man verlangt, was einem gebührt oder fühlt sich übervorteilt, jemand ist einem die Antwort schuldig geblieben, und wer viel Zeit und Mühe aufgewandt hat, fühlt sich möglicherweise um die Gegenleistung betrogen. Und ganz unabhängig vom Geld leiht man jemandem sein Ohr oder bietet ihm die Schulter zum Ausweinen an. Es gibt zahllose Metaphern für den gesellschaftlichen Austausch: Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich habe mit ihm noch eine Rechnung offen, er hat bekommen, was er verdient, eine Hand wäscht die andere, usw.

      Wie sehr diese ökonomischen Prozesse verwurzelt und ritualisiert sind, zeigt sich noch in den trivialsten Alltagsinteraktionen. Wenn der Bettler die Münze, die man ihm gegeben hat, nicht anerkennt, fühlt man sich betrogen. Der soziale Ausgleich lässt sich dann entweder dadurch wiederherstellen, dass man psychologisch den eigenen Wert steigert – etwa durch die Bemerkung zu einem Begleiter: »War ich nicht mal wieder großzügig?« – oder den Wert des anderen herabsetzt – etwa mit der Bemerkung: »Was für ein undankbarer Kerl!« Solange die Situation nicht ausgeglichen ist, bleibt ein vages Unbehagen; man will sein Gesicht nicht verlieren, oder, allgemeiner gesagt: das Selbstwertgefühl basiert darauf, dass der andere die Berechtigung des eigenen Anspruchs akzeptiert. Das kann durch eine Körperhaltung geschehen, die Aufmerksamkeit vermittelt, oder auch nur durch ein bestätigendes Nicken.

      Dieser anhaltende Prozess wechselseitiger Verstärkung ist das Wesen der Gesellschaft . Was wir als gutes Benehmen oder Manieren bezeichnen, ist im Alltag eine kulturelle Notwendigkeit. Jeder kennt die Spannung, die entsteht, wenn man in einer fremden Kultur die Regeln der wechselseitigen Bestätigung nicht kennt. Regelbrüche, die nicht sofort zurückgenommen werden, führen zu einem Gefühl von Demütigung und Beleidigung. Wer bewusst das Image eines anderen verletzt, demütigt ihn, erregt Anstoß und wird in Zukunft gemieden. Wer ständig gegen diese sozialen Regeln verstößt, gilt als »geisteskrank« und wird eingesperrt. Anders ausgedrückt: Würden diese Regeln nicht mehr beachtet und die wechselseitige Anerkennung bliebe aus, käme es zu einem rasanten Anstieg von Individualismus, Konkurrenz und Brutalität, und die Angst in der Gesellschaft stiege ins Ungeheuerliche.

      Um zu verstehen, wie stark diese Regeln sind, reicht ein kleines soziales Experiment: Versuchen Sie einmal, nicht zu reagieren, wenn Ihnen ein Freund oder Partner etwas erzählt – also kein Nicken, keine Mimik, kein Wort. Nach höchstens fünf bis zehn Sekunden wird Ihr Gegenüber Sie fragen, ob irgendetwas los sei, ob es Ihnen nicht gut gehe, ob Sie nicht zugehört hätten, oder Ihnen auf andere Weise zeigen, dass Ihr Benehmen nicht akzeptabel ist. Ihr Verhalten hat das soziale Gefüge zerrissen, und das bedarf einer Erklärung oder Entschuldigung, zum Beispiel: »Tut mir leid, ich habe gerade an etwas anderes gedacht.« Die sozialen Regeln verlangen eine legitime Entschuldigung, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht. Nicht legitim wäre zum Beispiel: »Es interessiert mich nicht, was du zu sagen hast.«

      Wenn der soziale Austausch nicht richtig funktioniert, weil die Beteiligten die Situation unterschiedlich definieren und entsprechend unterschiedliche Währungen benutzen, führt das zu Angst, Spannung, Zorn, Unbehagen, Verlegenheit, Scham- und/oder Schuldgefühlen. Das Verhältnis von Geben und Nehmen wird von einem oder beiden Beteiligten als ungerecht empfunden: »Ich bin zu dem Berater gegangen, damit er mir hilft , aber er hat die ganze Zeit nur geredet und ich konnte ihm gar nicht sagen, was ich eigentlich wollte«, oder: »Ich habe eine Menge Geld für die Beratung bezahlt, aber die Beraterin hat mir nur zugehört und mir zurückgespiegelt, was ich gesagt habe – was hilft mir das?« Umgekehrt kann es genauso unangenehm sein, wenn Klienten einen Rat ignorieren oder die angebotene Hilfe ablehnen. Solche Spannungen lassen sich oft nur dann lösen, wenn einer oder beide Beteiligten das Ungleichgewicht bemerken und mit einer Erklärung, einer Entschuldigung oder einem verspäteten Dank für Ausgleich sorgen.

       Nähe und Vertrauen

      Obwohl die Regeln klar genug sind, hängt es auch von persönlichen Vorlieben ab, wann und wie Beziehungen aufgebaut oder umgangen werden. Wir kennen zwar die Grundregeln des guten Benehmens und halten sie meistens auch ein, treffen aber auch Entscheidungen und haben Präferenzen. Wer ein großes Bedürfnis nach Inklusion und/oder Freundschaft hat, neigt stärker dazu, das zu bestätigen, was andere beitragen, wer zur Dominanz neigt, wird auch in Beziehungen konkurrieren und seine Überlegenheit ausspielen, und wer Wert auf Autonomie legt, vermeidet helfende Situationen nach Möglichkeit. All das sind Varianten im Rahmen der kulturellen Regeln. Wissen muss man aber, dass der grundlegende Mechanismus, mit dem wir Beziehungen aufbauen, vertiefen und testen, aus der bewussten oder unbewussten Manipulation dieser Regeln besteht. In einer distanzierten, unpersönlichen Beziehung gibt es kaum die Möglichkeit, den Anspruch auf ein hohes Maß an Wert durchzusetzen. In intimen Freundschaften oder Paarbeziehungen steigt der Anspruch auf Wert durch die Enthüllung privater Gedanken und Gefühle, deren Anerkennung wir erwarten können. Wir bauen zum Teil auch deshalb intime Beziehungen auf, um Situationen zu schaffen, die durch die Anerkennung und Bestätigung des höheren Anspruchs auf Wert das Selbstwertgefühl steigern.

      Gelegentlich testet man Beziehungen, indem man einen hohen Wert beansprucht und die Angemessenheit der Reaktion überprüft . Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man beansprucht einen hohen Status (»Hallo, ich bin Professor Schein vom MIT«) oder man gibt etwas Persönliches, Bedeutungsvollen preis (»Mir geht’s heute wirklich nicht gut« oder: »Ich komme gerade aus der Th erapie«), um zu sehen, ob der Gesprächspartner dies durch verständnisvolles, mitfühlendes Verhalten bestätigt. Diese Bestätigung kommt oft in Form einer persönlichen Mitteilung des anderen. Durch solche Test- und Reaktionszyklen wird dann nach und nach das aufgebaut, was man als enge Beziehung bezeichnet.

      Vertrauen heißt in diesem Kontext die Gewissheit, dass der andere die Offenbarung der eigenen Gefühle, Gedanken und Absichten nicht herabsetzt, lächerlich macht oder ausnutzt. Wie das im Alltag funktioniert, zeigen ganz gewöhnliche Unterhaltungen. Verhält sich jemand dabei unaufmerksam, spricht nebenher mit anderen und sucht erkennbar nach interessanteren Gesprächspartnern, gähnt er, unterbricht das Gespräch mit der Bemerkung, er wisse das doch längst, oder antwortet er in desinteressiertem Ton, stört er mit diesem Verhalten den Aufbau der Beziehung, gefährdet das Ansehen des Sprechers, bringt ihn in Verlegenheit und erweist sich als unhöflich oder doch wenigstens einer Beziehung nicht würdig. Diesem Menschen geht man in Zukunft besser aus dem Weg. Wer dagegen aufmerksam ist und auch in anderer Weise sein Interesse zeigt, baut eine Beziehung auf, auf die er später, wenn er selbst etwas zu erzählen hat und vom anderen aufmerksames Zuhören erwartet, Anspruch erheben kann.

      Bei der Entscheidung, welche Beziehung wir fördern wollen und welche nicht, greifen wir auf die Kenntnis der Regeln und die eigenen frühen Erfahrungen zurück. Wenn man wiederholt die Erfahrung gemacht hat, dass mit einem bestimmten Menschen ein ausgeglichenes Gespräch nicht möglich ist, baut man keine Beziehung zu ihm auf,


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