Das Schuljahr nach Corona (E-Book). Armin Himmelrath
Defizit in der Debatte über Verantwortung und Steuerung, dass Akteure im Bildungsbereich keine Instrumente entwickelt haben, um Basiswissen zu der Krisensituation in den Schulen zu sammeln. Einzelbefunde auf Schulebene werden nirgendwo zusammengeführt, von der Sammlung von Ideen und dem Austausch auf Bezirks-, Schul- oder kollegialer Ebene ist kaum zu sprechen. Leuchttürme und gut funktionierende Infrastrukturen an wenigen Schulen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit orientierungslos ist.
Wenn Schulleitungen nicht beherzt zugreifen und nicht schon vor der Corona-Krise darin erprobt waren, solitär und kreativ Lösungen zu finden, direkte Wege zu Bezirks- und Landesregierungen oder nach innen gut organisiert Schulentwicklung zu betreiben, dann erwies sich der Lockdown durch die gesellschaftsweiten Kontaktbeschränkungen als ein Knockout für die Schulen.
Es existieren nicht wenige Berichte über Schulen, die jetzt noch in einem Lähmungszustand sind: Es sind Schulen, die nicht in der Lage sind, ihre Kollegien an den Schulen zu koordinieren, verlässliche Kommunikationsstrukturen aufzubauen, Eltern einzubinden, Unterrichtsformate zu erproben, zu entwickeln und darüber Austausch zu initiieren. Es sind Schulen, die noch immer keine E-Mail-Adressen ihrer Schülerinnen und Schüler haben und nicht einmal über einen Verteiler ihres eigenen Kollegiums verfügen. Die Missstände sind eklatant: Einige Lehrkräfte melden sich nie bei ihren Schülerinnen und Schülern, viele selten; Rückmeldungen zu Aufgaben werden nicht gegeben; Kommunikationsstrukturen sind intransparent; die Eltern wissen nicht, womit sie von Woche zu Wochen rechnen können. Es gibt Schulen, an denen weniger als fünf Prozent der Lehrkräfte digitalen Unterricht durchführen.
Trotz der jahrelangen Bemühungen um eine Erweiterung der Autonomie der Einzelschule, die in allen Bundesländern zu beobachten waren, trotz der Flexibilisierung der Verantwortungs- und Steuerungsstrukturen der Schulaufsicht ist es nicht ausreichend gelungen, eine sensible Orientierung an den Bedarfen und Bedürfnissen der Schüler und Ihrer Eltern einzuleiten. Im Gegenteil fühlt sich die Mehrzahl der Schulen überlastet und tut sich schwer, funktionsfähige Handlungsstrukturen zu etablieren, die auf die neuen Herausforderungen regieren. Es ist zu befürchten, dass die Krisenerfahrungen mit einer unberechenbaren Schulsituation unter noch mehr Eltern als bisher die Attraktivität privater Schulen erhöhen. Diesen attestieren immer mehr Familien mit Schulkindern, sie könnten flexibler auf Herausforderungen reagieren und angemessen und sensibel auf ihre Bedürfnisse eingehen.
1.2Ansätze des digitalen Lernens wurden sträflich vernachlässigt
Deutschland ist in digitaler Hinsicht konservativ. Der Bildungs- und Beschäftigungsbereich ist in hohem Maße von Anwesenheit abhängig. Der seit rund zwei Jahrzehnten erhobenen Forderung nach Digitalisierung und Modernisierung wurde in viel zu kleinen Schritten entsprochen. Für dieses eklatante Defizit werden nun die Kosten erhoben. Der Ad-hoc-Stopp hat die Schulen hart getroffen. Die Regelungen zur Kompensation des ausfallenden Unterrichts sind, wenn überhaupt, gut gemeint. Den Schulen fällt auf die Füße, dass digitale Lernformate allenfalls als Fassaden existieren. Geteilte Standards, gemeinsame Hardwarevoraussetzungen oder die Sicherheit der Erreichbarkeit sind nicht gewährleistet. Ganz zu schweigen davon, dass das Bildungssystem kaum Übung im digitalen Lehren und Lernen hat.
Das Tempo der Digitalisierung im Schulbereich ist noch nicht angezogen worden. Vor Ausbruch der Pandemie ist von den fünf Milliarden Euro des «Digitalpaktes» des Bundes und der Länder nur ein Bruchteil abgerufen worden. Schulen und Schulträger, die sich jetzt noch nicht auf den Weg gemacht haben, sind zumeist immer noch nicht aufgewacht. Das Matthäus-Prinzip könnte die bereits einsetzende Schieflage noch verstärken.
1.3Die Förderung der benachteiligten Schülerinnen und Schüler ist völlig unzureichend
Die Situation von Schülerinnen und Schülern, deren Familien die Ressourcen für den Unterricht zu Hause nicht aufbringen können, ist prekär. Sozial schlechter gestellte Gruppen drohen jetzt noch weiter abgehängt zu werden. Es ist ein Dauerdefizit im deutschen Schulsystem, dass die soziale Herkunft einen derart großen Einfluss auf den Schulerfolg hat. Es blieb auch in den 20 Jahren nach dem PISA-Schock ungelöst und wird jetzt virulent. Auszeiten und Ferien stellen für bildungsferne Gruppen kritische Zeiträume dar, weil sich der Abstand zu den bildungsnahen Gruppen erhöht. Die Sommerferien dürften in diesem Fall zu einer Potenzierung führen, weil die Monate davor bereits sehr unterschiedlich genutzt wurden: Die bildungsnahen Familien haben mehr Zeit im Home-Office verbracht und konnten die Betreuung der Kinder übernehmen. In diesen Familien ist die technische Ausstattung vorhanden, Computer, Drucker, Software und natürlich das Wissen der Eltern. Das ist in vielen Schulen stillschweigend vorausgesetzt worden. Alle Familien, die nicht über diese Voraussetzungen verfügen, sind hingegen weitgehend abgehängt.
Die Bildungsungleichheit ist damit stark angewachsen. Mangelprobleme häufen sich in Familien, die Einkommenseinbußen haben und wenig Zeit für die Betreuung der Kinder aufbringen können oder einfach nicht über das Wissen verfügen, um zu helfen. In den privilegierten Familien hingegen wird der Unterricht oft über Nachhilfestrukturen organisiert. In einigen Familien kommen Nachhilfekräfte täglich.
” Diese Situation verstärkt die ohnehin problematische Situation benachteiligter Schülerinnen und Schüler.
Über Familien mit Kindern, die einen erhöhten Förderbedarf haben, ist bis auf explorative und anekdotische Evidenz viel zu wenig bekannt (ZPI 2020). Das stellt in Verbindung mit der Debatte über Inklusion ein schulpolitisches Defizit dar, das zusätzlich zur schleppenden Inklusionsbewegung belastend wirkt. Die schlechte Förderung im Bereich Heterogenität, Diversität und Inklusion ist ein Dauerproblem im deutschen Bildungssystem, das in den vergangenen Jahren liegengeblieben ist.
Die Fragilität der Situation von Schülergruppen, die schwer erreichbar sind, in familiären Milieus mit geringer schulischer Unterstützung leben oder besondere Bedarfe haben, kumuliert jetzt. Die Ausbildungsstrukturen von Lehrkräften haben sich zwar geändert, aber das genügt noch immer nicht, um trägen Strukturen, auf denen das Schulleben aufbaut, begegnen zu können. Die Schulsteuerung macht keine ausreichenden Vorgaben, die Schulkulturen haben sich noch immer nicht zu der Belohnung von guter Förderung ändern können.
2Die Krise bietet die Chance zur Intensivierung der Reformen
Unsere Analyse zeigt: Fantasielosigkeit, Steuerungsprobleme und das Defizit im Umgang mit modernen Lern- und Kommunikationstechnologien haben schon vor der COVID-19-Pandemie bestanden. Sie sind aber durch die Krise zum einen sichtbarer, zum anderen noch virulenter geworden. Gegenmaßnahmen sind nicht nur an diesen Defiziten gescheitert, sie stellen auch postpandemisch eine wesentliche Herausforderung dar. Diese zu bewältigen, bedarf eines konzertierten Vorgehens, um alte und neue Probleme des deutschen Schulsystems unter Zeitdruck lösen zu können.
2.1Die Steuerung des Schulsystems bedarfssensibel gestalten
Es ist unübersehbar, dass unterschiedliche krisenrelevante Ebenen im Bildungssystem existieren. Hierbei zeichnet sich die oben beschriebene Situation ab, in der die ohnehin undurchsichtigen Steuerungsstrukturen nicht funktioniert haben und eine nahezu vollständige Lähmung des Schulbetriebs eingetreten ist. Noch wird in der Öffentlichkeit keine transparente Diskussion darüber geführt, aber für einen Großteil der Bevölkerung zerplatzt die Illusion einer verantwortungsvollen Schule.
Das Etikett Homeschooling ist in diesem Zusammenhang fatal. Trotz der rhetorischen Abwehr trifft es die Situation. Dagegen zeigen viele Beispiele anderer Länder, dass Fern- und digitaler Unterricht gut funktionieren können. Die sozialisationstheoretische Perspektive, auf die wir uns hier beziehen, weist auf unterschiedlichen Ebenen eines solchen Prozesses hin. Dieser verbindet die genannten Defizite mit der Aussicht auf Reformchancen.
Folgendes Szenario wäre wünschenswert: Es werden regionale und überregionale Gremien eingerichtet, in denen erfahrene Expertinnen und Experten für den gesamten Bildungsbereich zusammenarbeiten. Die Situation, die mit dem ungewollten Bildungsmoratorium der vergangenen Wochen verbunden war, wird genau analysiert und zur Grundlage der weiteren Planung.
Es wird evaluiert, wo Versorgungs- und Lernlücken entstanden sind und welche Gruppen Unterstützung benötigen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Schulstress ohne Schule entstanden ist und in allen Familien besondere Belastungen erfahren werden.